Erhöhtes Haftungsrisiko durch neue französische Rechtsprechung zum Direktanspruch in internationalen Lieferketten
Die französische Cour de Cassation hat am 28. Mai 2025 zwei Grundsatzurteile (Az. 23-13.687 und Az. 23-20.341) gefällt, die für grenzüberschreitende Warenlieferungen von erheblicher Bedeutung sind. Die Urteile könnten Warenhersteller und Zwischenhändler einem deutlich erhöhten Haftungsrisiko aussetzen.
Sachverhalt und rechtlicher Hintergrund
In beiden hier besprochenen Fällen handelte es sich um Lieferketten, in denen ein Endabnehmer (bzw. ein Untererwerber) Mängel an einem Produkt rügte und deswegen nicht nur seinen direkten Verkäufer, sondern auch den Hersteller in Anspruch nahm.
Im ersten Fall enthielten die AGB des Erstverkäufers eine Rechtswahlklausel zugunsten des deutschen Rechts. Im zweiten Fall ging es um forstwirtschaftliche Maschinen, die über verschiedene Zwischenhändler aus Tschechien nach Belgien und Luxemburg gelangten. In den Verkaufsbedingungen des Herstellers war hier eine Rechtswahl zugunsten des tschechischen Rechts vorgesehen.
Im Unterschied zu vielen anderen Rechtsordnungen kennt das französische Recht bei Lieferketten einen Direkt- bzw. Durchgriffsanspruch des Letztabnehmers gegen die vorgelagerten Lieferanten der Lieferkette. Dieser von der Rechtsprechung entwickelte „action directe” ist nach französischem Verständnis vertraglicher Natur und basiert auf der Annahme, dass die Gewährleistungsansprüche des Ersterwerbers mit dem Eigentum an der Sache bei ihrer Weiterveräußerung auf den Nacherwerber übergehen (siehe unser Merkblatt zur action directe).
Nach der bisherigen Linie der französischen Gerichte konnte sich der Direktanspruch allerdings in der Regel nur dann gegen einen ausländischen Hersteller oder Importeur der mangelhaften Ware richten, wenn bereits der Erstverkauf der Ware dem französischen Recht unterlag. Dabei konnte sich das für den Erstverkauf geltende Recht auch aus einer zwischen Hersteller und Ersterwerber vereinbarten Rechtswahlklausel ergeben, die somit auf den Untererwerber ausstrahlte.
Deliktische Qualifikation der Ansprüche des Untererwerbers
Die beiden Urteile der Cour de Cassation vom 28. Mai 2025 nehmen bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts Bezug auf das Urteil des EuGH „Jakob Handte“ vom 17. Juni 1992 (C-26/91). Darin hatte der EuGH im Rahmen der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit festgestellt, dass ein Rechtsstreit, den der spätere Erwerber einer Sache gegen den Hersteller – der nicht der Verkäufer ist – wegen Mängeln der Sache oder ihrer Untauglichkeit zum bestimmungsgemäßen Gebrauch anstrengt, keine vertragliche Streitigkeit im Sinne des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe a der EuGVVO darstellt.
Die beiden Urteile der Cour de Cassation stellen darauf ab, dass zwischen dem Hersteller und dem Untererwerber kein Vertrag besteht. Daher gehe es in dieser Konstellation zwangsläufig um deliktische Ansprüche, für die das anwendbare Recht nach den Kollisionsregeln für außervertragliche Schuldverhältnisse (Rom-II-Verordnung Nr. 864/2007) zu bestimmen ist.
Zudem nimmt die Cour de Cassation Bezug auf das EuGH-Urteil „Refcomp“ vom 7. Februar 2013 (C-543/10), in dem der Gerichtshof – ebenfalls betreffend die gerichtliche Zuständigkeit – festgestellt hat, dass eine im Vertrag zwischen dem Hersteller und dem Ersterwerber vereinbarte Gerichtsstandsklausel dem Untererwerber, der eine Haftungsklage gegen den Hersteller erheben möchte, nicht entgegengehalten werden kann. In Übertragung dieser Rechtsprechung stellt der Kassationsgerichtshof in den besprochenen Urteilen fest, dass die in den beiden Erstkaufverträgen jeweils enthaltenen Rechtswahlklauseln zugunsten des deutschen bzw. tschechischen Rechts gegenüber den Untererwerbern keine Wirkung entfalten. Die ursprüngliche Rechtswahl „vererbt“ sich also nicht mehr entlang der (internationalen) Lieferkette.
Der Kassationsgerichtshof hebt die jeweiligen Urteile der Vorinstanzen daher zum Teil mit der Begründung auf, das anwendbare Recht hätte anhand der Kollisionsregel des Art. 4 der Rom-II-Verordnung bestimmt werden müssen. Nach dessen Absatz 1 ist das Recht des Staates maßgeblich, in dem der Schaden eintritt (sog. Erfolgsort).
Bedeutung der Urteile und die Folgen für deutsche Hersteller
Die besprochenen Urteile vom 28. Mai 2025 sind insofern bedeutsam, als sie die Anwendung des deliktischen Haftungsregimes in produktbezogenen Streitigkeiten zu befürworten scheinen, wenn Hersteller und Endabnehmer ihren Sitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten haben und zwischen ihnen kein direktes Vertragsverhältnis besteht.
Für deutsche Produkthersteller wäre die Anwendung des französischen Deliktsrechts (Art. 1240 Code civil) in diesen Konstellationen nachteilig. Bisher konnte das Risiko einer direkten Haftung gegenüber den Untererwerbern durch die Wahl des deutschen Rechts im Erstkaufvertrag weitgehend ausgeschlossen werden. Diese Möglichkeit könnte den Herstellern nun genommen worden sein.
Da die Direktansprüche der Untererwerber gegen den Hersteller nun deliktisch zu qualifizieren sind, werden sie regelmäßig dem französischen Recht unterliegen, wenn der Schaden in Frankreich aufgetreten ist. Falls dies auch zur Anwendung des französischen Deliktsrechts führt, könnten französische Untererwerber ausländische Hersteller künftig regelmäßig vor französischen Gerichten (Gerichtsstand der unerlaubten Handlung, keine Anwendbarkeit der Gerichtsstandklausel aus dem Erstkaufvertrag) und auf Grundlage des französischen Deliktsrechts (Recht des Erfolgsortes, keine Anwendbarkeit der Rechtswahlklausel aus dem Erstkaufvertrag) verklagen.
Da das französische Deliktsrecht auch den Ersatz von Vermögensschäden gestattet und keine Verletzung eines absoluten Rechts voraussetzt – anders als das deutsche Recht –, ist die neue Linie der französischen Rechtsprechung für deutsche Hersteller eine Hiobsbotschaft: Ihr Haftungsrisiko steigt erheblich und die bisherigen vertraglichen Abwehrmechanismen könnten sich als wirkungslos erweisen.
Hinzu kommt, dass die Verjährung deliktischer Ansprüche nach französischem Recht für den Hersteller deutlich ungünstiger ist als die Verjährung von Mängelansprüchen nach deutschem Kaufrecht. Die Regelverjährung beträgt fünf Jahre, wobei die Verjährungsfrist erst zu laufen beginnt, wenn der Anspruchsinhaber Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen erlangt hat (Art. 2224 Code civil). In der Regel wird dies aber frühestens mit dem Auftreten des Mangels beim Untererwerber der Fall sein, gegebenenfalls sogar erst nach dem Abschluss eines selbstständigen Beweisverfahrens. Somit können Hersteller noch etliche Jahre nach der Auslieferung an den Ersterwerber mit Haftungsansprüchen wegen Produktmängeln konfrontiert werden.
Überraschend können deliktische Ansprüche aus Frankreich diejenigen Hersteller treffen, die ihre Ware an einen Zwischenhändler mit Sitz in einem anderen Staat geliefert haben, der diese ohne ihr Wissen an einen französischen Endkunden weiterverkauft hat. Zwischenhändler, die deliktischen Direktansprüchen des französischen Rechts ausgesetzt sind, könnten wiederum vor der Unmöglichkeit stehen, gegen den Hersteller Regress zu nehmen, wenn im Verhältnis zu diesem nur vertragliche Ansprüche, etwa nach deutschem Recht, möglich sind.
Allerdings muss im Rahmen der deliktischen Haftung des Herstellers ein anderer Haftungsmaßstab angelegt werden als bei der Sachmängelgewährleistung. Eine deliktische Pflichtverletzung kann nach französischem Recht nur angenommen werden, wenn das Produkt objektiv mangelhaft ist. Abweichungen von einer Beschaffenheitsvereinbarung dürften hierfür häufig nicht ausreichen.
Einschränkend ist außerdem anzumerken, dass noch unklar ist, wie die Instanzgerichte die neuen Vorgaben des Kassationsgerichtshofs umsetzen werden. Schließlich spielt sich die deliktische Qualifikation der Direktansprüche zunächst nur auf der Ebene des Kollisionsrechts ab. Es ist nicht sicher, dass die Gerichte nach der Anwendung der Kollisionsregeln für außervertragliche Schuldverhältnisse stets auch zur Geltung des nationalen Deliktsrechts gelangen werden. Nachdem das französische Gericht über Artikel 4 der Rom-II-Verordnung zur Anwendung des französischen Rechts gelangt ist, könnte es auf Grundlage seiner lex fori theoretisch zur gewohnten vertraglichen Qualifikation der Direktansprüche kommen.
Bis auf weiteres ist davon auszugehen, dass die vertragsrechtliche Qualifikation der „action directe” im nationalen französischen Recht weiterhin Bestand hat. In diesem Fall käme es „über die Hintertür” doch wieder auf das Vertragsstatut an. In der Praxis erscheint es allerdings wahrscheinlicher, dass die Gerichte infolge der Anwendung der deliktrechtlichen Kollisionsregel das nationale Deliktrecht zur Anwendung bringen werden.
Fazit und Ausblick
Die beiden Grundsatzentscheidungen der Cour de Cassation vom 28. Mai 2025 stellen deutsche Produkthersteller vor neue Herausforderungen. Die bisherigen vertraglichen Abwehrmechanismen (insbesondere in AGB) sollten vor dem Hintergrund dieser Urteile überprüft werden. Die Gründung einer Ländergesellschaft vermag Direktansprüche jedenfalls nicht auszuschließen, sofern die Tochtergesellschaft die Ware von der deutschen Muttergesellschaft bezieht.
In diesem Zusammenhang wird ein angemessener Versicherungsschutz gegen Haftungsansprüche aus dem Ausland zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Sollte es aufgrund der neuen Rechtsprechung zu einem insgesamt höheren Schadensaufkommen kommen, dürften mittelfristig allerdings die Versicherungsprämien steigen.
Auch für die Haftpflichtversicherer könnte die Anwendung des französischen Rechts auf die Ansprüche der Untererwerber erhebliche Auswirkungen haben. Während in vielen Fällen bisher das deutsche Vertragsstatut Direktansprüche gegen den Haftpflichtversicherer ausschloss, könnte die Anwendung des französischen Rechts künftig Direktansprüche auch gegen die Versicherer ermöglichen.
Hinweis Für eine abschließende Beurteilung konkreter Sachverhalte ist eine Einzelfallprüfung unerlässlich.
Unsere deutsch-französische Kanzlei unterstützt Sie gern bei der Abwehr von Ansprüchen wegen Mängeln, die von französischen Endkunden erhoben werden:
17.06.2025