Keine Haftungsminderung bei Schadensvergrößerung durch den Geschädigten
Das Prinzip der réparation intégrale im französischen Schadensrecht
Im Heft 1/2022 der IWRZ - Zeitschrift für Internationales Wirtschaftsrecht – Nomos kommentieren Jeanne Faymonville und Frederik Reiberling ein Urteil des französischen Kassationsgerichtshofs.
Ein aktuelles Urteil der französischen Cour de cassation (erste Zivilkammer, Urteil vom 2.6.2021, n° 19–19349) bietet Anlass zur Erörterung des im französischen Schadensrecht geltenden principe de la réparation intégrale. Danach hat der Schädiger den dem Geschädigten entstandenen Schaden vollumfänglich zu ersetzen. Anders als im deutschen Recht (§ 254 BGB) gilt dies im Grundsatz auch dann, wenn der Geschädigte durch sein eigenes Verhalten zur Höhe des Schadens beigetragen hat.
- Sachverhalt des Urteils
- Abgrenzung zwischen Mitverursachung und Vergrößerung des Schadens
- Unbeachtlichkeit der Schadensvergrößerung durch den Geschädigten im Deliktsrecht
- Umfassende Schadensersatzpflicht
- Ausnahmsweise Berücksichtigung der Schadensvergrößerung bei vertraglicher Haftung
Eine Überspannung in einem durch das beklagte Unternehmen betriebenen Stromnetz verursachte einen Brand in der Wohnung des klägerischen Ehepaares. Die Cour d’appel hatte den Klägern lediglich Ersatz in Höhe von 60 % des entstandenen Schadens zugesprochen und dies damit begründet, dass in deren Stromkreis eine normwidrige automatische Wiedereinschaltungsvorrichtung eingebaut gewesen war. Die Installation dieser Gefahrenquelle sei schuldhaft gewesen und habe den eingetretenen Schaden vergrößert, sodass der Schadensersatzanspruch der Kläger entsprechend zu mindern gewesen sei.
Diese Entscheidung hat die Cour de cassation in einem anschließenden Revisionsverfahren aufgehoben. Zur Begründung stützt sie sich auf die Feststellungen der Cour d’appel, wonach die Wiedereinschaltungsvorrichtung den Schaden eben nur vergrößert, nicht aber verursacht habe. Letzteres wäre gemäß Art. 1245–12 des Code civil jedoch Voraussetzung für eine Haftungsminderung gewesen. Denn diese Vorschrift des Produkthaftungsrechts[1] sieht vor, dass die Haftung des Herstellers unter Berücksichtigung aller Umstände gemindert werden oder entfallen kann, wenn der Schaden durch einen Fehler des Produkts und zugleich durch ein Verschulden des Geschädigten verursacht worden ist.
Dem Wortlaut nach scheint dies der Regelung des § 254 Absatz 1 BGB zu entsprechen. Hiernach liegt ein relevantes Mitverschulden vor, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt hat. Dies gilt nach Absatz 2 Satz 2 auch dann, wenn sich das Verschulden des Geschädigten darauf beschränkt, dass er es unterlassen hat, den Schaden zu mindern. Im deutschen Recht kommt eine Haftungsminderung wegen Mitverschuldens also nicht nur in Betracht, wenn der Schaden bei sorgfältigem Verhalten des Geschädigten insgesamt verhindert worden wäre. Es genügt vielmehr, dass der erlittene Schaden geringer ausgefallen wäre.[2]
Nach Ansicht der Cour de cassation genügte es im vorliegenden Fall für eine Haftungsminderung jedoch nicht, dass die Geschädigten den erlittenen Schaden schuldhaft vergrößert hatten. Erforderlich wäre eine Mitverursachung des Schadens gewesen. Diese hätte dann vorgelegen, wenn der Wohnungsbrand nicht allein durch die Überspannung, sondern nur im Zusammenwirken mit der normwidrigen Wiedereinschaltungsvorrichtung verursacht worden wäre.[3] Doch das traf gerade nicht zu. Vielmehr konnte sich die von den Geschädigten geschaffene Gefahr überhaupt erst verwirklichen, weil die brandursächliche Überspannung bereits einen Anfangsschaden verursacht hatte.
Im französischen Schadensrecht ist folglich danach zu unterscheiden, ob das Verschulden des Geschädigten den anfänglichen Schaden mitverursacht oder ob es lediglich einen bereits verursachten Schaden vergrößert:[4] Das Prinzip der réparation intégrale stellt besonders strenge Anforderungen, so dass dieser Differenzierung entscheidende Bedeutung zukommt. Derweil scheint die Rechtsprechung im Rahmen der vertraglichen Haftung nicht gänzlich abgeneigt, eine schuldhafte Schadenserhöhung durch den Geschädigten zu sanktionieren.
Wie im französischen Produkthaftungsrecht bedarf es nach ständiger Rechtsprechung auch im allgemeinen Deliktsrecht eines für die Schadensentstehung mitursächlichen Verschuldens des Geschädigten, einer sogenannten „faute ayant concouru à la réalisation du dommage“, um die Haftung des Schädigers zu begrenzen.[5]
Aufgrund des principe de la réparation intégrale bleibt eine bloße Schadenserhöhung durch den Geschädigten hingegen unberücksichtigt.[6] Nach diesem Prinzip muss der Geschädigte durch die Leistung des Schadensersatzes in die Lage versetzt werden, in der er sich ohne Eintritt des schädigenden Ereignisses befände. Die Höhe des Schadensersatzes darf die tatsächliche Höhe des Schadens weder überschreiten[7], noch unterschreiten.[8] Für den konkreten Fall, in dem die Cour de cassation zu urteilen hatte, bedeutet dies: Ohne Überspannung hätte es keinen Brand gegeben, die Gefahr der normwidrigen Wiedereinschaltungsvorrichtung hätte sich nicht auswirken können und den Geschädigten wäre keinerlei Schaden entstanden. Daher hat der Schädiger, dem die brandursächliche Überspannung zuzurechnen ist, den Schaden vollständig zu ersetzen.
Konsequenterweise wird im französischen Deliktsrecht eine Haftungsminderung zu Lasten des Geschädigten auch dann verneint, wenn dieser erst nach Entstehen des Anfangsschadens seinen Verursachungsbeitrag zur Schadensvergrößerung gesetzt hat. Anders als im deutschen Recht unterliegt der Geschädigte keiner Obliegenheit, den ihm entstandenen Schaden möglichst gering zu halten (sog. Schadensminderungspflicht).[9] Ihn trifft keine Obliegenheit, auf die Interessen desjenigen Rücksicht zu nehmen, der ihm Schaden zugefügt hat. So muss sich ein Geschädigter zum Beispiel weder einer vernünftigerweise gebotenen medizinischen Behandlung unterziehen,[10] noch muss er eine ihm angebotene andere Arbeit annehmen, wenn er seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann.[11] Vielmehr hat der Schädiger den Schaden in vollem Umfang zu ersetzen.
Diese beinahe uferlose Schadensersatzpflicht sieht sich nicht nur in der Lehre Kritik ausgesetzt.[12] Im Juli 2020 hat eine Gruppe von Senatoren einen entsprechenden Vorschlag zur Reform des Haftpflichtrechts (proposition de loi portant réforme de la responsabilité civile)[13] eingebracht. Ihr Vorschlag sieht einen neuen Artikel 1264 des Code civil vor, wonach der Umfang des zu leistenden Schadensersatzes gemindert werden kann, wenn der Geschädigte keine angemessenen Maßnahmen (mesures sûres, raisonnables et proportionnées)[14] ergriffen hat, um eine Vergrößerung seines Schadens zu verhindern. Für Schäden, die durch Körperverletzung verursacht werden, sieht dieser Vorschlag in einem Absatz 2 jedoch einen Ausschluss einer solchen Minderung vor. Unabhängig von den ungewissen Erfolgschancen dieses Gesetzesentwurfs hat die Cour de cassation mit dem vorstehend erläuterten Urteil erneut klargestellt, dass nach derzeit geltendem Recht die Vergrößerung des Schadens durch den Geschädigten dessen Schadensersatzansprüche nicht schmälert.[15]
Etwas anderes gilt nur, wenn ein positives Verhalten des Geschädigten den Kausalitätszusammenhang zwischen Verletzungshandlung und Schaden unterbricht. Stellt ein schädigendes Ereignis keine cause directe des geltend gemachten Schadens dar, so ist eine Haftung schon gar nicht begründet.[16] Die Kosten der Durchführung einer ergotherapeutischen Diagnostik beispielsweise, für die in der Folge eines Unfalls überhaupt kein Anlass bestand, stellen keine dem Unfall zuzurechnende Schadensposition dar und sind daher vom Schädiger nicht zu erstatten.[17]
Grundsätzlich gilt das principe de la réparation intégrale auch im Rahmen der vertraglichen Haftung. Der durch eine Vertragspflichtverletzung verursachte Schaden ist grundsätzlich vollumfänglich (sans perte ni profit) zu ersetzen. Der Geschädigte ist nicht gehalten, seinen Schaden im Interesse des Schädigers zu begrenzen.[18] Anders als im Deliktsrecht besteht jedoch eine Ausnahme von diesem Grundsatz.[19] So hat die Cour de cassation in einem Urteil aus dem Jahr 2011[20] zu erkennen gegeben, dass die schuldhafte Vergrößerung eines reinen Vermögensschadens durch den Geschädigten berücksichtigt werden kann – wenngleich sie ein Verschulden im konkreten Fall nicht als gegeben ansah.
Auch sonst zeigt sich die französische Rechtsprechung eher zurückhaltend, eine schuldhafte Schadenserhöhung anzunehmen.[21] Muss zum Beispiel ein Gebäude abgerissen werden, weil der infolge der Mangelhaftigkeit des Bauwerks erforderliche Stützbalken von einem Dritten gestohlen wurde, ist die Haftung des Bauunternehmers nicht zu mindern, nur weil der Bauherr nach dem Diebstahl keine Maßnahmen zum Erhalt des Gebäudes ergriffen hat.[22] Bejaht wurde eine Haftungsbeschränkung dagegen im Falle eines Bauherrn, der es unterlassen hatte, dem Bauunternehmer einen nach Abnahme aufgetretenen Baumangel anzuzeigen. Ihm waren daher die wegen der Unbenutzbarkeit des Gebäudes entgangenen Mieteinnahmen nur bis zu dem Zeitpunkt zu ersetzen, in dem die Mangelbeseitigung bei rechtzeitiger Mangelanzeige abgeschlossen gewesen wäre.[23] Wie im Deliktsrecht ist der Geschädigte zwar nicht verpflichtet, seinen Schaden gering zu halten. Ihn trifft allerdings eine Treuepflicht (obligation de loyauté) gegenüber seinem Vertragspartner.[24] Verletzt er diese Treuepflicht, etwa indem er selbst die Nacherfüllung durch die andere Seite verzögert, kann er für die so bewirkte Schadensvergrößerung keinen Ersatz verlangen.
Abschließend sei auf eine weitere Begrenzung des principe de la réparation intégrale hingewiesen, die sich aus Artikel 1231–3 des Code civil ergibt. Nach dieser Vorschrift ist die vertragliche Haftung auf die bei Vertragsabschluss vorhersehbaren Schäden beschränkt, sofern die Vertragspflichten nicht vorsätzlich oder grob fahrlässig verletzt wurden. Für eine unvorhersehbare Schadensvergrößerung, die durch ein besonders irrationales Verhalten des Geschädigten verursacht wird, trifft den Schädiger mithin keine Ersatzpflicht.
[1] Strom gilt als Produkt, Art. 1245–2 Code civil.
[2] Für einen vergleichbaren Fall siehe BGH Urt. v. 27.1.1994 – VII ZR 178/92, NJW-RR 1994, 534.
[3] Vgl. die zugrundeliegenden Fälle in Cour de cassation, Plenarversammlung, Urt. v. 9.5.1984, n° 80–93.031 und n° 80–93.481.
[4] Golosov, Responsabilité du fait des produits défectueux : l’aggravation du préjudice par faute de la victime est indifférente sur le quantum de son indemnisation, 16.6.2021, abrufbar unter https://www.actualitesdudroit.fr/browse/affaires/assurance/33230/responsabilite-du-fait-des-produits-defectueux-l-aggravation-du-prejudice-par-faute-de-la-victime-est-indifferente-sur-le-quantum-de-son-indemnisation.
[5] Cour de cassation, Plenarversammlung, Urt. v. 9.5.1984, n° 80–93.031 und n° 80–93.481; Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 7.7.2011, n° 10–25.281.
[6] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 29.3.2012, n° 11–14.661.
[7] Cour de cassation, erste Zivilkammer, Urt. v. 9.11.2004, n° 02–12.506.
[8] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 12.5.2011, n° 10–17.148.
[9] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 19.6.2003, n° 00.22.302 und n° 01–13.289; Mazeaud, La passivité de la victime, l’intérêt de l’auteur du dommage, Recueil Dalloz 2004, p. 1346 ; Jourdain, La Cour de cassation nie toute obligation de la victime de minimiser son propre dommage, RTD Civ. 2003, p. 716 ; Gout, Responsabilité civile, Recueil Dalloz 2016, p. 35.
[10] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 19.6.2003, n° 01–13.289; vgl. BGH Urt. v. 10.2.2015 – VI ZR 8/14, NJW 2015, 2246.
[11] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 26.3.2015, n° 14–16.011; vgl. BGH Urt. v. 29.9.1998 – VI ZR 296–97, NJW 1998, 3706.
[12] Mazeaud (Fn. 9).
[13] Sénat, Session extraordinaire de 2019–2020, n° 678.
[14] Auf Deutsch: „sichere, zumutbare und verhältnismäßige Maßnahmen“.
[15] So auch Golosov (Fn. 4).
[16] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 7.4.2011, N° 10–30.566.
[17] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 24.11.2011, N° 10–25.133.
[18] Cour de cassation, dritte Zivilkammer, Urt. v. 10.7.2013, N° 12–13.851; Handelskammer, Urt. v. 23.9.2020, N° 15–28.598.
[19] Adida-Canac, « Mitigation of damage » : une porte entrouverte ?, Recueil Dalloz 2012, p. 141 ; Adida-Canac und Bouvier, Recueil Dalloz 2012, p.644 ; Brun, Recueil Dalloz 2013, p. 40 ; Jourdain, Vers une sanction de l’obligation de minimiser le dommage ?, RTD Civ. 2012, p. 324 ; Delebeque, Pas de devoir de minimisation de son préjudice pour l’acheteur subissant les conséquences financières de vices cachés affectant les équipement de son navire, Le Droit Maritime Français, N° 830, 1.1.2020.
[20] Cour de cassation, zweite Zivilkammer, Urt. v. 24.11.2011, N° 10–25.635.
[21] Delebeque (Fn. 19), m.w.N.
[22] Cour de cassation, dritte Zivilkammer, Urt. v. 10.7.2013, N° 12–13.851.
[23] Cour de cassation, erste Zivilkammer, Urt. v. 2.10.2013, N° 12–19.887.
[24] Adida-Canac und Bouvier (Fn. 19).
18.02.2022