Keine Schadensminderungspflicht in Frankreich
Ein jüngst gefälltes Urteil des französischen Kassationsgerichtshofes (Erste Zivilkammer, Urteil vom 02.06.2021, N° 19-19349) bietet Anlass, die Bedeutung des im französischen Deliktsrecht geltenden Prinzips der vollumfänglichen Reparation (principe de la réparation intégrale) hervorzuheben. Hiernach hat der Schädiger demjenigen, dessen Rechtsgüter er schuldhaft verletzt, den entstandenen Schaden vollumfänglich zu ersetzen. Anders als im deutschen Recht gilt dies auch dann, wenn der Geschädigte durch sein eigenes Verhalten zur Höhe des Schadens beigetragen hat.
Das höchste französische Gericht hatte darüber zu entscheiden, ob der Stromnetzbetreiber Enedis vollumfänglich für den Schaden haftet, der durch einen Wohnungsbrand infolge einer Überspannung im Stromnetz entstanden war. Das Berufungsgericht hatte dem geschädigten Ehepaar nur Ersatz in Höhe von 60 % des entstandenen Schadens zugesprochen und dies damit begründet, dass in deren Stromkreis eine normwidrige automatische Wiedereinschaltungsvorrichtung eingebaut gewesen war. Die Installation dieser Gefahrenquelle sei schuldhaft gewesen und habe den eingetretenen Schaden vergrößert. Diese Entscheidung wurde vom Kassationsgerichtshof aufgehoben, da – so die Cour de cassation – die Wiedereinschaltungsvorrichtung den Schaden eben nur vergrößert, nicht aber verursacht habe. Letzteres aber wäre Voraussetzung für eine Haftungsminderung gewesen. Im konkreten Fall ergab sich diese Voraussetzung aus Artikel 1245-12 des Code civil, einer Vorschrift des Produkthaftungsrechts, da Strom als Produkt gilt. Nach einhelliger Meinung bedarf es aber auch im allgemeinen Deliktsrecht eines ursächlichen Mitverschuldens des Geschädigten, um die Haftung des Schädigers zu begrenzen.
Im deutschen Recht wäre die Entscheidung anders ausgefallen. Nach § 254 BGB liegt ein für den Haftungsumfang relevantes Mitverschulden vor, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Geschädigten mitgewirkt hat. Dies gilt auch dann, wenn dieser es unterlassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Dieser Begriff des Mitverschuldens ist nicht auf die Verursachung des schädigenden Ereignisses beschränkt, sondern stellt auf alle Verursachungsbeiträge ab, die zum Schaden in seinem endgültigen Umfang beigetragen haben. Der Stromnetzbetreiber hätte demnach also den entstandenen Schaden nur in dem Umfang ersetzen müssen, wie er eingetreten wäre, wenn die Geschädigten keine normwidrige Wiedereinschaltungsvorrichtung installiert hätten. Den darüber hinausgehenden Schaden hätte das geschädigte Ehepaar, dem die Installation der gefährlichen Vorrichtung zur Last gelegt wird, selber tragen müssen.
Noch frappanter als im der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Fall sind die Unterschiede zwischen französischer und deutscher Rechtslage, wenn man die Auswirkungen des Verhaltens des Geschädigten nach Eintritt eines schädigenden Ereignisses betrachtet. Nach deutschem Recht unterliegt der Geschädigte der Obliegenheit, den ihm entstandenen Schaden möglichst gering zu halten (Schadensminderungspflicht).
Im französischen Recht wäre eine solche Schadensminderungspflicht mit dem Prinzip der vollumfänglichen Reparation unvereinbar. Den Geschädigten trifft keine Obliegenheit, den ihm entstandenen Schaden im Interesse des Schädigers zu mindern. Vielmehr hat der Schädiger den Schaden in vollem Umfang zu ersetzen. Diese umfassende Schadensersatzpflicht sieht sich nicht nur in der Lehre Kritik ausgesetzt. Im Juli 2020 hat eine Gruppe von Senatoren einen Gesetzentwurf zur Reform des Schadensrechts (proposition de loi portant réforme de la responsabilité civile) eingebracht. Der Vorschlag sieht einen neuen Artikel 1264 des Code civil vor, wonach der Umfang des zu leistenden Schadensersatz gemindert werden kann, wenn der Geschädigte keine sicheren, vernünftigen und verhältnismäßigen Maßnahmen (mesures sûres, raisonnables et proportionnées) ergriffen hat, um eine Vergrößerung seines Schadens zu verhindern. In einem Absatz 2 wird diese mögliche Minderung jedoch für Schäden wegen einer Körperverletzung ausgeschlossen. Unabhängig von den ungewissen Erfolgschancen dieses Gesetzesentwurfs hat die Cour de cassation mit dem eingangs erwähnten Urteil vom 2. Juni 2021 nochmals klargestellt, dass nach dem derzeit geltenden Recht die Vergrößerung des Schadens durch den Geschädigten dessen Schadensersatzansprüche nicht schmälert.
21.09.2021