Rupture Brutale: Reduzierung des Geschäftsvolumens vor Ablauf der eingeräumten Kündigungsfrist möglich
In einem Urteil vom 19. März 2025 (Az. 23-23.507) hat der Kassationsgerichtshof erstmals anerkannt, dass eine außergewöhnlich lange Kündigungsfrist es ermöglichen kann, das Geschäftsvolumen bereits vor dem Ende der eingeräumten Kündigungsfrist erheblich zu reduzieren.
Nach Artikel L.442-1 Abs. II des französischen Handelsgesetzbuchs (Code de commerce) haftet derjenige auf Schadensersatz, der eine gefestigte Geschäftsbeziehung beendet, ohne dies dem Geschäftspartner vorab schriftlich angezeigt zu haben und dabei eine angemessene Auslauffrist eingehalten zu haben, die unter anderem die Gesamtdauer der Geschäftsbeziehung berücksichtigt (sog. rupture brutale d‘une relation commerciale établie).
Nach der bisherigen Rechtsprechung der französischen Gerichte muss die Geschäftsbeziehung bis zu ihrem Ende zu denselben Konditionen fortgeführt werden, was insbesondere bedeutet, dass das bei Ausspruch der Kündigung bestehende Geschäftsvolumen grundsätzlich aufrechterhalten werden muss (vgl. Cass. com. Urt. v. 10.02.2015, Az. 13-26.414 P). Allenfalls eine unwesentliche Reduzierung des Geschäftsvolumens ist in diesem Zeitraum zulässig (vgl. Cass. com. Urt. v. 07.12.2022, Az. 19-22.538 P).
In dem hier besprochenen Rechtsstreit lag die Besonderheit vor, dass ein Händler seinem Lieferanten eine außergewöhnlich lange Kündigungsfrist von 35 Monaten eingeräumt hatte, innerhalb dieses Zeitraums jedoch eine progressive Reduzierung des jährlichen Bestellwerts angekündigt und vorgenommen hatte.
Der Fall betraf eine seit 23 Jahren bestehende Geschäftsbeziehung zwischen dem Sportartikelhändler Decathlon und seinem Lieferanten Sport Elect Institut. Im Januar 2018 hatte Decathlon dem Lieferanten schriftlich mitgeteilt, dass die Geschäftsbeziehung zum 1. Januar 2021 beendet werde, wobei das Bestellvolumen bis dahin schrittweise reduziert werden solle: Von 800.000 Euro in Jahr 2017 auf 600.000 Euro im Jahr 2018, auf 500.000 Euro im Jahr 2019 und schließlich auf 200.000 Euro im Jahr 2020. Tatsächlich lag der Umsatz für das Jahr 2018 letztlich bei knapp 680.000 Euro, was einem Rückgang von ca. 15 % gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Im September 2019 verklagte der mittlerweile insolvente Lieferant Decathlon vor dem Handelsgericht Lille auf Zahlung von Schadensersatz wegen brutalen Abbruchs der Geschäftsbeziehung, weil Decathlon die Geschäftsbeziehung nicht bis zum Ende der Kündigungsfrist im bisherigen Umfang weitergeführt hatte.
Nachdem sowohl das erstinstanzliche Gericht als auch das Berufungsgericht Paris die Klage abgewiesen hatten, erhob der Lieferant Revision zum Kassationsgerichtshof.
Mit Urteil vom 19. März 2025 stellte dieser fest, dass hier kein brutaler Abbruch der Geschäftsbeziehung durch Decathlon vorlag. Zwar müsse die Geschäftsbeziehung grundsätzlich während der gesamten Kündigungsfrist zu den bisherigen Bedingungen fortgesetzt werden, was bedeutet, dass etwaige Änderungen der Geschäftsbeziehung nicht erheblich sein dürfen. Unter besonderen Umständen könne es dem Kündigenden jedoch gestattet sein, das Geschäftsvolumen nicht bis zum Ende der Kündigungsfrist im gleichen Umfang beizubehalten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die eingeräumte Kündigungsfrist die einzuhaltende Mindestfrist erheblich übersteigt.
Dass die Gesamtdauer der Kündigungsfrist (35 Monate) hier ausreichend war, war zwischen den Parteien unstreitig, zumal die Firma Sport Elect Institut nur 24 % ihres Gesamtumsatzes mit der Firma Decathlon erzielte und keine besonderen Investitionen in berechtigtem Vertrauen auf den Fortbestand der Geschäftsbeziehung getätigt hatte. Nach Ansicht des Gerichtshofes wäre hier sogar eine Mindestfrist von 10 Monaten ausreichend gewesen. Somit überstieg die tatsächlich eingeräumte Kündigungsfrist die Mindestfrist um mehr als 2 Jahre.
Der Gerichtshof stellte im Ergebnis klar, dass die Pflicht des Kündigenden, das Geschäftsvolumens zu den bisherigen Konditionen beizubehalten, sich auf den Zeitraum der einzuhaltenden Mindestfrist beschränkt. Räumt der Kündigende dem Gekündigten freiwillig eine längere Auslauffrist als die Mindestfrist ein, so ist nach dem Ablauf der Mindestfrist eine erhebliche Reduzierung des Geschäftsvolumens unschädlich.
Im entschiedenen Fall hatte der Rückgang des Bestellvolumens im entscheidenden ersten Jahr der Kündigungsfrist (2018) rund 15 % gegenüber dem Vorjahr betragen. Ein solcher Rückgang gilt nach der französischen Rechtsprechung nicht als „erheblich“. Deshalb bestätigte der Gerichtshof das Urteil der Vorinstanz, wonach Decathlon die Geschäftsbeziehung in ausreichendem Umfang für einen ausreichenden Zeitraum fortgeführt hatte, da die Reduzierung des Umsatzes auf 514.466 Euro im Jahr 2019 und auf 149.930 Euro im Jahr 2020 erst nach Ablauf der Mindestfrist erfolgt war.
Das Urteil des Kassationsgerichtshofes verdient volle Zustimmung. Die Regelung des Artikels L.442-1 Abs. II Code de commerce hat das Ziel, dem gekündigten Geschäftspartner eine ausreichende Frist einzuräumen, um sich umzuorientieren und neue Geschäftsbeziehungen aufbauen zu können. Dazu ist es nur erforderlich, dass die Geschäftsbeziehung bis zum Ende der einzuhaltenden Mindestfrist effektiv fortgeführt wird. Es würde jedoch über das gesetzgeberische Ziel hinausschießen, würde man die Vorschrift so auslegen, dass das bisherige Geschäftsvolumen auch dann bis zum Ende der tatsächlich eingeräumten Frist aufrechtzuerhalten ist, wenn diese die Mindestfrist übersteigt. Damit würde man ohne Not diejenigen Unternehmen bestrafen, die ihren Geschäftspartnern auf freiwilliger Basis eine längere Frist als die Mindestfrist einräumen wollen.
Das Urteil stellt einen bedeutenden Schritt auf dem Weg der französischen Gerichte dar, das Verbot der „rupture brutale“ flexibler handzuhaben, indem es seine Voraussetzungen und seine Rechtsfolgen praxisnäher auslegt und sich dabei mehr an wirtschaftlichen Erwägungen orientiert.
Praxistipp
Das Urteil ermöglicht der Praxis deutlich mehr Gestaltungsmöglichkeiten bei der Beendigung von Geschäftsbeziehungen mit französischen Geschäftspartnern. Künftig kommt es im Anwendungsbereich des Verbotes nur noch darauf an, das bisherige Geschäftsvolumen während der angemessenen Mindestfrist beizubehalten. Es kann jedoch eine längere Auslauffrist eingeräumt werden, während derer ein progressives Auslaufen der Bestellungen zulässig ist. Ein solches Auslaufen ist auch aus Sicht des kündigenden Unternehmens häufig von Vorteil, etwa beim Aufbau eines neuen Zulieferers, der noch nicht von Anfang an im benötigten Umfang produzieren kann.
Sicherheitshalber sollte der Geschäftspartner jedoch bereits bei Ausspruch der Kündigung über den geplanten Verlauf der Reduzierung der Lieferungen / Bestellungen bis zu deren vollständigem Ende informiert werden.
08.05.2025