Zwei aktuelle Urteile zu privaten und gerichtlichen Gutachten in Frankreich
Privatgutachten und ihre Beweiskraft (Cass. 3e civ., 30. Jan 2025, n° 23-15.414)
Die französische Rechtsprechung hat sich jüngst im Umgang mit einvernehmlichen (privaten) Gutachten deutlich weiterentwickelt. Bisher erkannten Gerichte solche Gutachten nur dann an, wenn sie durch objektive Beweise gestützt wurden. Allein auf ein von einer Partei vorgelegtes Privatgutachten durfte sich ein Gericht nicht stützen (Cass. ch. mixte, 28.09.2012, Nr. 11-18.710).
Mit einem aktuellen Urteil vom 30. Januar 2025 hat der französischen Kassationsgerichtshof (Cour de cassation) nun eine bedeutende Öffnung vorgenommen: Zwei übereinstimmende Privatgutachten können ausreichen, um ein Gericht von der Begründetheit eines Anspruchs zu überzeugen – auch ohne weitere unabhängige Beweismittel.
Dies bedeutet jedoch keine vollständige Gleichstellung mit gerichtlichen Gutachten. Die Beweiswürdigung bleibt dem Gericht überlassen, und auch mehrere Privatgutachten stellen keine zwingende Grundlage dar. Dennoch eröffnet die Entscheidung den Parteien neue Möglichkeiten, ihre Argumentation effizienter und ohne gerichtliche Beweiserhebung zu untermauern – ein relevanter Aspekt insbesondere in komplexen wirtschafts- oder IP-rechtlichen Verfahren, in denen Zeit und Kosten eine zentrale Rolle spielen.
Haftung von gerichtlichen Sachverständigen (Cass. civ. 1ère, 19. März 2025, n° 23-17.696)
In einem aufsehenerregenden Urteil vom 19. März 2025 hat der Kassationsgerichtshof die Anforderungen an gerichtliche Sachverständige deutlich verschärft. Ein Sachverständiger haftet demnach zivilrechtlich, wenn sein Gutachten auf unzureichenden oder hypothetischen Grundlagen beruht und der betroffenen Partei dadurch ein nachweislicher Schaden entsteht – etwa in Form eines Prozessverlustes.
Die Richter betonten, dass Sachverständige verpflichtet sind, gründliche Ermittlungen anzustellen, insbesondere bei der Ursachenforschung technischer Mängel. Unterbleibt dies, kann das als Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten gemäß Art. 1240 Code civil gewertet werden.
Zudem stellte der Gerichtshof klar: Es bedarf keines zusätzlichen selbständigen Beweisverfahrens, um die Fehler eines Gutachtens zu bewerten – die Gerichte können dies eigenständig beurteilen. Bemerkenswert ist auch die Anwendung des Schadensbegriffs über den „Verlust einer Chance“, was es Klägern erleichtert, den Kausalzusammenhang zwischen Gutachtenmangel und Prozessausgang geltend zu machen.
Dieses Urteil dürfte weitreichende Folgen für die Praxis haben, nicht nur für Sachverständige, sondern auch für Anwältinnen und Anwälte, die künftig Gutachten kritisch hinterfragen und bei gravierenden Fehlern gezielt haftungsrechtliche Schritte prüfen sollten.
16.06.2025