Frankreich: Unzulässige Beschränkung des Onlinehandels bei selektivem Vertrieb
Der französische Kassationshof bestätigte in einem Urteil vom 26. Januar 2022 eine millionenschwere Geldbuße, die wegen einer kartellrechtlich unzulässigen Beschränkung des Onlinehandels mit elektrischen Gartengeräten gegen den Hersteller Stihl verhängt worden war. Die Rechtfertigung, wonach es sich um als "gefährlich" einzustufende Geräte wie etwa Kettensägen handele, deren beschränkter Onlinevertrieb auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten kartellrechtlich nicht verfolgt werde, verfing nicht.
- Was versteht man unter einem selektiven Vertriebssystem?
- Stellt der selektive Vertrieb ein nach dem Wettbewerbsrecht verbotenes Kartell dar?
- Das Urteil vom 26. Januar 2022
- Praxistipps
1 Was versteht man unter einem selektiven Vertriebssystem?
Selektive Vertriebssysteme sind (vgl. Legaldefinition des Art. 1 Abs. 1 lit. e VO 330/2010 EU) Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind.
2 Stellt der selektive Vertrieb ein nach dem Wettbewerbsrecht verbotenes Kartell dar?
Grundsätzlich stellt ein selektives Vertriebssystem gemäß Art. 101 AEUV und L. 420-1 des französischen Handelsgesetzbuchs ein Kartell im Wettbewerbsrecht dar. In Ausnahmefällen ist ein solches System nach dem AEUV nicht verboten, sofern die Auswahlkriterien aufgrund der angemessenen Beschaffenheit des Produkts zwingend erforderlich sind, in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden und in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen.
Der EuGH und das französische Kassationsgericht hat den selektiven Vertrieb beispielsweise bei Luxusgütern, insbesondere bei prestigeträchtigen Parfümmarken, anerkannt (EuGH, 10. Juli 1980, Lancôme, Rs. 99/79: EuGH, Slg., S. 2511, Schl. Reischl. ; Cass. com., 19. Sept. 2006, Nr. 04-15.025). So wurde beschlossen, dass diese Vertriebsform "ein legitimes Mittel darstellt, das Herstellern zur Verfügung steht, die das Luxus- und Prestigeimage ihrer Marke aufbauen oder aufrechterhalten, die Erfolge ihrer Werbeanstrengungen sichern und in der Wahrnehmung der Verbraucher die "Aura der Exklusivität und des Prestiges" der betreffenden Produkte aufrechterhalten wollen“ (EuGH, 6. Dez. 2017, Nr. C-230/16, Coty Germany: D. 2018 ; Cass. com, 23. März 2010, Nr. 09-65.839, 09-65.844 und 09-66.987: JCP E 2010, 1714 ; Cass. com., 16. Feb. 2016, Nr. 14-13.017).
3 Das Urteil vom 26. Januar 2022
Das französische Kassationsgericht hat in einem kürzlich ergangenen Urteil über eine Geldbuße in Höhe von 6 Millionen € gegen den Hersteller Stihl, verhängt durch die Autorité de la concurrence (französische Wettbewerbsbehörde) entschieden. Die Autorité de la concurrence hatte zwar keine grundsätzlichen Bedenken gegen das selektive Vertriebssystem des Herstellers Stihl für bestimmte Produkte wie Kettensägen angemeldet. Ein solches System falle aufgrund der „Gefährlichkeit“ des Produkts grundsätzlich nicht unter das in Artikel L.420-1 des französischen Handelsgesetzbuchs und Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) normierte Kartellverbot. Der selektive Vertrieb trage dazu bei, die Sicherheit der Verbraucher zu wahren und das Image der Marke und die Qualität der betreffenden Produkte zu gewährleisten.
Jedoch monierte die Wettbewerbsbehörde einen Aspekt des Vertriebssystems: Konkret ging es um die Verpflichtung der Vertriebspartner, auch bei einer Onlinebestellung zwingend eine persönliche Übergabe und Einweisung für bestimmte Produkte durch den Vertriebspartner selbst vorzusehen. Die Wettbewerbsbehörde sah hierin einen Kartellverstoß. Der Kassationshof hat dies nun in letzter Instanz bestätigt (Com. 26 Jan. 2022, FS-D, Nr. 19-24.464).
Der Kassationshof teilte die Ansicht der Vorinstanz und der Wettbewerbsbehörde, wonach bereits nach dem Zweck dieser Regelung eine Wettbewerbsbeschränkung vorliege – was dazu führt, dass die tatsächliche wettbewerbsbeschränkende Wirkung nicht mehr zu untersuchen ist. Dem zugrunde lag ein Streit, der gerade für im internationalen Vertrieb tätige Unternehmen von Relevanz ist: Eine Wettbewerbsbeschränkung nach dem Zweck kann nur angenommen werden, wenn das Verhalten bereits „seiner Natur nach“ wettbewerbsschädlich ist. Dies erfordert eine evidente Schädlichkeit für den Wettbewerb.
Im vorliegenden Fall hatte sich Stihl gegen die Annahme einer solchen evidenten Schädlichkeit gewehrt mit der Begründung, dass die Wettbewerbsbehörden mehrerer anderer Mitgliedsstaaten, unter anderem auch in Deutschland, entschieden hatten, kein Ermittlungsverfahren zu dem identischen Vertriebssystem einzuleiten. Dies sei von den französischen Gerichten zu berücksichtigen. Der Kassationshof vertrat hier allerdings einen formellen Standpunkt: Die Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens der ausländischen Wettbewerbsbehörden stellt keine negative Feststellung dar. Das heißt, die Prüfungsbehörde stellt zwar ihre Ermittlungen ein, sie stellt damit aber nicht rechtsverbindlich fest, dass keine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt. Dazu sind diese Behörden ohnehin nicht befugt. Angesichts dessen befand der Kassationshof, dass die ausländischen Beendigungen des Prüfungsverfahrens für die Beurteilung der französischen Gerichte unbeachtlich waren.
Die Wettbewerbsbeschränkung sah der Kassationshof darin, dass bei einer derart restriktiven Regelung des Onlineverkaufs, wie hier durch die persönliche Übergabe durch den Fachhändler selbst, der Onlinehandel derart unattraktiv gestaltet würde, dass eine abschreckende Wirkung erzielt werde und somit faktisch ein Verbot des Online-Verkaufs bestehe. Ein Verkauf außerhalb ihres physischen Einzugsgebiets sei den Händlern somit kaum möglich und die Auswahl der Käufer, die online einkaufen wollen, sei stark beschränkt. Ein Preisvergleich im Internet nutze den Käufern wenig, wenn sie sich für den Kauf dennoch physisch in ein Geschäft ihrer Nähe begeben müssen. Auch seien Preisreduzierungen der Händler aufgrund eines erhofften größeren Umsatzvolumens kaum möglich, wenn die Händler auf ihr physisches Einzugsgebiet beschränkt bleiben.
Im Gegensatz zum selektiven Vertriebssystem als solches sei diese Regelung auch nicht durch das Ziel gerechtfertigt, die Sicherheit der Nutzer der Geräte zu gewährleisten. Zum einen bestehe keine gesetzliche Pflicht, Käufer gefährlicher Maschinen wie Kettensägen durch ein persönliches Gespräch zu instruieren. Zum anderen hielt der Kassationshof die Einschätzung der Vorinstanz aufrecht, wonach mildere, gleich geeignete Mittel bestünden, um die Sicherheit der Käufer im Umgang mit der Maschine zu gewährleisten. Als Argumente hierfür wurden insbesondere angeführt, dass die Pflicht auch für professionelle Nutzer gelte, welche den sicheren Umgang mit den Maschinen ohnehin bereits beherrschten. Auch die Pflicht, die Übergabe zwingend durch den Fachhändler durchzuführen und nicht auf Subunternehmer zu übertragen, wurde moniert. Zuletzt wurde auch die Einschätzung des Berufungsgerichts aufrechterhalten, dass die Sicherheit der Kunden statt durch einen physischen Kontakt genauso auch auf anderen Wegen, etwa per Support über Fernkommunikationsmittel, gewährleistet werden könne.
Darüber hinaus lehnte der Kassationshof auch eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. Art. L.420-4 des französischen Handelsgesetzbuchs ab. Zwar stelle eine persönliche Kaufberatung einen Effizienzgewinn dar, was eine Voraussetzung der Einzelfreistellung ist. Denn so wird sichergestellt, dass die Maschine für die körperliche Verfassung desjenigen, der sie erwerben möchte, geeignet ist Weiterhin müsste die vorgenommene Wettbewerbsbeschränkung aber „unerlässlich“ sein, um diesen Effizienzgewinn zu erzielen. Dies ist laut Kassationshof nicht der Fall, der sich wiederum dem Berufungsgericht anschließt und darauf verweist, dass die dafür maßgeblichen Produktmerkmale auch online aufgeführt werden können, zudem biete sich etwa die Möglichkeit von Videoanleitungen. Es gebe mithin mildere Mittel, mit denen der Effizienzgewinn ebenfalls zu erzielen sei. Die persönliche Beratung sei nicht zwingend erforderlich. Erst recht sei dies nicht der Fall bei professionellen oder mit den Maschinen vertrauten Nutzern. Da die Sicherheitsinformationen, die in einer persönlichen Beratung vermittelt werden, die gleichen sind, wie die der Gebrauchsanweisung, ist der einzige Vorteil somit die Gewähr, dass der Käufer die Hinweise auch tatsächlich zur Kenntnis genommen hat. Hier vermisste das Gericht allerdings den Nachweis, dass für Käufer ohne persönliche Beratung eine höhere Unfallquote zu verzeichnen sei.
Zu guter Letzt kam der Kassationshof nochmal auf die abweichenden Entscheidungen ausländischer Kartellbehörden zu sprechen: Stihl hatte sich auch darauf berufen, durch die Entscheidungspraxis in anderen Mitgliedsstaaten darauf vertrauen zu dürfen, dass sein Verhalten auch in Frankreich kartellrechtskonform ist. Aufgrund dieses Vertrauens sei auch im Falle eines letztlich festgestellten Kartellverstoßes keine Geldbuße auszusprechen. Das Gericht versagte dem Hersteller jedoch diesen Vertrauensschutz mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH (etwa: Schenker & Co AG, C‑681/11), wonach ein solcher Vertrauensschutz – wenn überhaupt – nur durch die zuständige nationale Kartellbehörde begründet werden könnte und diese zudem keine Befugnis habe, das Fehlen eines Kartellverstoßes festzustellen. Ein schutzwürdiges Vertrauen sei daher keinesfalls gegeben.
4 Praxistipps:
- Wenn Sie sich für den Einsatz eines selektiven Vertriebssystems entscheiden, achten Sie darauf, dass die Art Ihrer Produkte dies rechtfertigt, da die Kartellbehörden Kartellverstöße mit empfindlichen Bußgeldern ahnden können.
- Die Einstellung eines kartellrechtlichen Prüfungsverfahrens in einem EU-Mitgliedsstaat darf nicht zu der Annahme verleiten, dass ein bestimmtes Verhalten damit auch in anderen Mitgliedsstaaten nicht verfolgt wird.
- Eine Beschränkung des Onlinevertriebs der Vertriebspartner durch Auflagen, die so belastend sind, dass sie den Onlinehandel faktisch unattraktiv machen, lässt sich kaum rechtfertigen. Wenn doch, müssen Rechtfertigungsgründe wie etwa zwingende Sicherheitserfordernisse sehr detailliert belegt werden können.
01.04.2022