Missbrauch von wirtschaftlicher Abhängigkeit bei Unternehmenskäufen in Frankreich
Mit Urteil vom 10. Juli 2024 hatte die Handelskammer des französischen Kassationsgerichts über eine Anfechtung eines Unternehmenskaufs wegen Willensmängeln zu entscheiden. (Cass. com., 10-7-2024, Nr. 22-21.947 FS-B)
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Sachverhalt
Im entschiedenen Fall wollte ein Ehepaar sämtliche Geschäftsanteile an seinem Unternehmen an die Firma Equip’Jardin Atlantic übertragen. Zunächst war für die Übertragung eine Preisanpassungsklausel vorgesehen, auf die die Erwerberin sodann jedoch wieder verzichtete. Weniger als zwei Tage vor der Unterzeichnung des Vertrags über den Unternehmenskauf verlangte die Erwerberin erneut die Aufnahme der Preisanpassungsklausel. Diese wurde dann auch in den Vertrag aufgenommen.
Nach wirksamer Abtretung verklagte die Erwerberin die Veräußerer auf Zahlung aus der Preisanpassungsklausel.
In der Preisanpassungsklausel war festgelegt, dass der vereinbarte Kaufpreis in Höhe von 250.000 € in Abhängigkeit des zum vereinbarten Stichtag vorhandenen Eigenkapital nach oben oder unten angepasst werden sollte. Der Stichtag im konkreten Fall lag knapp eine Woche vor der wirksamen Abtretung (closing). Da das Eigenkapital zum Stichtag geringer war, als angenommen, verlangte der Erwerber eine entsprechende Anpassung und Rückzahlung des zu viel gezahlten Kaufpreises.
Die Veräußerer machten die Nichtigkeit der Preisanpassungsklausel wegen sog. wirtschaftlicher Gewalt (violence économique) geltend. Die Erwerberin habe sie durch die späte Aufnahme der Klausel in eine wirtschaftliche Abhängigkeit gebracht, die sie missbraucht habe.
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Die Rechtslage in Frankreich
Eine durch Täuschung, widerrechtliche Drohung oder Gewalt erlangte Willenserklärung ist nach Artikel 1130 und 1131 des französischen Zivilgesetzbuches (Code Civil) ein Nichtigkeitsgrund (cause de nullité relative du contrat). Dieser ist „relativ“, da ihn nicht jeder, sondern nur die betroffene Person geltend machen kann.
Gemäß Artikel 1143 des Code Civil liegt Gewalt auch dann vor, wenn eine Partei unter Ausnutzung der Abhängigkeit ihres Vertragspartners, von diesem eine Verpflichtung erwirkt, die er ohne eine solche Zwangslage nicht eingegangen wäre, und daraus einen offensichtlich übermäßigen Vorteil zieht.
Der in Frankreich geläufige Begriff der wirtschaftlichen Gewalt (violence économique) wird im Gesetz selbst nicht erwähnt. Er wird von der Rechtsprechung aus der missbräuchlichen Ausnutzung einer Abhängigkeit des Vertragspartners in Artikel 1143 des Code Civil hergeleitet.
Die wirtschaftliche Gewalt hat zwei Voraussetzungen. Es muss eine wirtschaftliche Abhängigkeit bestehen und diese Machtposition muss missbräuchlich ausgenutzt werden. Die Nichtigkeit wegen wirtschaftlicher Gewalt kann innerhalb von 5 Jahren, ab dem Tag, an dem die Gewalt endet, geltend gemacht werden (action en nullité).
Zwar ist der Begriff der wirtschaftlichen Gewalt im deutschen Recht völlig unüblich, nicht aber das dahinterstehende Rechtsprinzip. Der Missbrauch einer wirtschaftlichen Überlegenheit wird hier als sittenwidriges Verhalten gegenüber dem Geschäftspartner angesehen. Das von der Rechtsprechung entwickelte Institut des wucherähnlichen Rechtsgeschäfts erfasst Fälle, in denen eine wirtschaftlich überlegene Partei die schwächere Lage der anderen Vertragspartei bewusst zu seinem Vorteil ausnutzt. Ein unter diesen Voraussetzungen geschlossener Vertrag ist nichtig.
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Entscheidung des Kassationshofs
Der französische Kassationshof bestätigt das Urteil der Vorinstanz, die die Veräußerer zur Zahlung aufgrund der Preisanpassungsklausel an die Erwerberin verurteilt hatte. Er verneint die Nichtigkeit des Vertrages wegen Ausnutzung einer wirtschaftlichen Machtposition (wirtschaftlicher Gewalt).
Nach Auffassung der Richter lag kein missbräuchliches Ausnutzen der wirtschaftlichen Abhängigkeit vor, da die Veräußerer nicht beweisen konnten, sich der Aufnahme der Klausel widersetzt zu haben und sie bei den Vertragsverhandlungen durch ihren Rechtsanwalt und ihren Wirtschaftsprüfer vertreten wurden.
Darüber hinaus war eine Einflussnahme der Veräußerer möglich, da sie die Bedingungen der Preisanpassungsklausel in einer Zusatzvereinbarung, die am Tag der Vertragsunterzeichnung abgeschlossen wurde, präzisierten.
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Bedeutung für die Praxis
Um einem Ungleichgewicht in den Vertragsverhandlungen im Rahmen eines M&A-Deals entgegenzuwirken, empfiehlt es sich, die folgenden Punkte zu beachten:
- Transparenz der Vertragsverhandlungen: Die Verhandlungen und Entscheidungen sollten schriftlich protokolliert werden, um nachweisen zu können, dass die Vertragsbedingungen in einem gleichberechtigten und fairen Prozess erarbeitet wurden.
- Vertretungsklausel: Der Unternehmenskaufvertrag sollte eine Klausel enthalten, die klarstellt, dass die Parteien bei den Vertragsverhandlungen und beim Vertragsabschluss durch Rechtsanwälte vertreten werden.
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Dieser Artikel wurde von Dr. Christophe Kühl in Zusammenarbeit mit unserer Referendarin Helen Rottkemper verfasst.
25.10.2024