Schiedsspruchskontrolle in Frankreich: Korruption erneut auf dem Prüfstand
CA Paris, 30. Juni 2020, Nr. 17/22515
Das französische Schiedsverfahrensrecht unterscheidet zwischen nationalen und internationalen Schiedsverfahren. Gemäß Art. 1504 der französischen Zivilprozessordnung (Code de procédure civile, CPC) ist ein Schiedsverfahren international, sobald die internationale Wirtschaft betroffen ist („est international l'arbitrage qui met en cause des intérêts du commerce international“)1. Ist ein Schiedsverfahren in diesem Sinne international, so sind die Art. 1504 bis 1527 CPC anwendbar. Ist ein Schiedsverfahren dagegen national („arbitrage interne“), so sind die Art. 1442 bis 1503 CPC anwendbar2.
Bei internationalen Schiedsverfahren mit Schiedsort in Frankreich ist meistens die 1. Kammer des Berufungsgerichts Paris (Cour d’appel de Paris) für die Aufhebung des Schiedsspruchs zuständig3. Die fünf abschließenden aufgezählten Gründe für die Aufhebung eines Schiedsspruchs im Rahmen eines internationalen Schiedsverfahrens sind in Artikel 1520 CPC vorgesehen.
Einer dieser Gründe ist der Verstoß gegen den internationalen Ordre public. Dieser hat in den letzten Jahren in der französischen schiedsrechtlichen Rechtsprechung zunehmend Bedeutung gewonnen, insbesondere im Hinblick auf den Umfang der vom Pariser Cour d‘appel ausgeübten Ordre public-Kontrolle im Zusammenhang mit dem Korruptionseinwand. Das hier vorgestellte Urteil vom 30. Juni 2020 ist eine weitere Entscheidung im Fall Gulf Leaders oder Sheikh Faisal4, welcher in Frankreich einer der wichtigsten Fälle zu diesem Thema ist.
Im Folgenden wird der Fall Gulf Leaders präsentiert (1.), den Umfang der Ordre public-Kontrolle durch die Pariser Cour d‘appel im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens vorgestellt, (2.) und die wichtigsten Punkte aus der Entscheidung vom 30. Juni 2020 dargestellt (3.).
1. Den Fall Gulf Leaders oder Sheikh Faisal
Der Fall Gulf Leaders wurde 2014 erstmals vor die Pariser Cour d‘appel5 verhandelt. Er ist in Frankreich symbolträchtig geworden, weil er einen Wechsel von einer minimalistischen zu einer gründlicheren und umfassenderen Überprüfung des Schiedsspruchs durch die Pariser Cour d’appel mit sich gebracht hat.
Das hier vorgestellte Urteil vom 30. Juni 2020 ist eine weitere Entscheidung im Zusammenhang mit dieser juristischen Saga: Der Fall war bereits Gegenstand von derzeit ca. 20 bekannten Entscheidungen unterschiedlicher Gerichte (Schiedsgerichte, Straf- und Handelsgerichte in verschiedenen Ländern) von der ersten bis hin zur letzten Instanz.
Dabei ging es jedes Mal um verschiedene Aspekte desselben Streites: Die französische Bank CFF schloss im Jahr 2008 eine Reihe von Verträgen (einen Darlehens-, einen Bürgschafts- und einen Vertrag über ein Pfandrecht) mit einem saudi-arabischen Sheikh (Sheikh Faisal Al Gobain) und/oder Gulf Leaders (dessen Mehrheitsaktionär Sheikh Faisal ist), um den Bau eines Krankenhauses in Damman, Saudi-Arabien, zu finanzieren. Alle drei Verträge enthielten jeweils eine Schiedsklausel. Zwischen den Parteien entstanden Streitigkeiten über die Verwendung der geliehenen Summe, in deren Folge die CFF den Kreditvertrag im Jahr 2009 kündigte und ein ICC-Schiedsverfahren (Standort Paris) gegenüber Gulf Leaders einleitete.
Insgesamt gab es zwischen CFF und Gulf Leaders/Sheikh Faisal drei Schiedsverfahren, die jeweils auf der Grundlage eines der genannten Verträge eingeleitet worden waren. In jedem dieser Verfahren argumentierte Sheikh Faisal (und/oder Gulf Leaders), dass ein Korruptionspakt beim Abschluss des Darlehensvertrags bestanden habe. Die behauptete Korruption sollte sich, nach der Argumentation des Sheikhs aus einem Vermittlungsvertrag der CFF mit einem panamaischen Unternehmen ergeben. Aus diesem Vertrag wurden Kommissionen bezahlt, ohne die es nach Ansicht des Sheikhs nicht zum Abschluss des Darlehensvertrags gekommen wäre. Jedes Mal erklärte das Schiedsgericht die Korruptionsvorwürfe für unbegründet.
Die Entscheidung vom 30. Juni 2020 steht im Zusammenhang mit dem dritten Schiedsverfahren, das in Verbindung mit dem Verpfändungsvertrag eingeleitet wurde. Im Januar 2015 leitete Sheikh Faisal dieses Schiedsverfahren gegen die CFF und die LGT Bank ein, um die Freigabe der verpfändeten Summe aufgrund der Korruption zu erwirken.
Das Schiedsgericht lehnte die Korruptionsvorwürfe von Sheikh Faisal mit einem Schiedsspruch vom 7. November 2017 erneut ab.
Sheikh Faisal reichte daraufhin bei der Pariser Cour d’appel eine Aufhebungsklage wegen Verletzung der internationalen öffentlichen Ordnung gegen diesen Schiedsspruch ein.
2. Prüfungsmaßstab bei der Ordre public-Kontrolle des Schiedsspruchs durch die Pariser Cour d‘appel im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens
Grundsätzlich gilt im Rahmen eines Aufhebungsverfahrens der Grundsatz des Verbots der révision au fond6. Die Idee dahinter ist, dass ein Aufhebungsverfahren nicht eine Berufung gleichgestellt werden sollte und somit keine zweite Instanz darstellen soll.
Die Frage nach der Reichweite dieses Verbots im Zusammenhang mit Verstößen gegen den internationalen Ordre public hat, in den letzten Jahren, zunehmend Bedeutung gewonnen. Stellt sich die Frage, ob ein solcher Ordre public-Verstoß vorliegt, sollte in der Theorie das urteilende Gericht tatsächlich eine gute Balance Maß zwischen dem Verbot der révision auf fond und dem Schutz des französischen ordre public international finden.
Art. 1520.5° CPC sieht vor, dass ein Schiedsspruch aufgehoben werden kann, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs gegen den ordre public international verstößt7. Die Cour d’appel de Paris prüft also, ob das konkrete Ergebnis der Durchsetzung des Schiedsspruchs den aktuellen Anforderungen des Ordre public (d. h. zur Zeit der Prüfung des Schiedsspruchs) widerspricht8.
Eine Zeit lang führte die Cour d’appel nur eine minimale Ordre-public Kontrolle durch9. Dabei hat sie Verstöße gegen den ordre public international nur angenommen, wenn diese Verstöße tatsächlich greifbar und offensichtlich waren (violation effective, concrète et flagrante)10. Diese Tendenz, und insbesondere die Voraussetzung eines offensichtlichen Verstoßes, wurde am 4. Juni 2008 von der Cour de cassation in einem Fall Cytec bestätigt11. Obwohl viele Autoren sich dagegen geäußert hatten12, bestätigte am 12. Februar 2014 die Cour de cassation in dem Fall Schneider13, dass auch bei Korruptionseinwänden nur eine minimale Ordre-public Kontrolle durchgeführt werden sollte.
Drei Wochen später hat die Cour d’appel de Paris im Fall Gulf Leaders dieses Prinzip wieder in Frage gestellt, und eine ausführlichere Prüfung vorgenommen14: Sie überprüfte dabei alle Tatsachen, die Grundlage des Schiedsspruchs geworden waren, und auch die rechtliche Begründung des Schiedsgerichts im Hinblick auf den Korruptionseinwand, um beurteilen zu können, ob die Anerkennung oder Vollstreckung des Schiedsspruches, die internationale öffentliche Ordnung in tatsächlich greifbarer Weise verletzt (violation effective et concrète). Der Fall Gulf Leaders ist dabei für die meisten, die im Bereich des Schiedsverfahrens tätig sind, ein fester Begriff geworden.
Ab 201715 ging die Pariser Cour d’appel noch einen Schritt weiter: Da Korruptionssachverhalte aufgrund möglicher Verschleierung oft schwer nachzuweisen sind, führte das Berufungsgericht zur Erleichterung der Beweisführung durch die Parteien die Möglichkeit ein, die der Korruption zugrunde liegenden Tatsachen nicht nur durch den Beweis der Haupttatsachen, sondern auch durch ein Bündel von Hinweisen (sog. „faisceau d’indices“) zu charakterisieren. Diese Anhaltspunkte müssen schwerwiegend, präzise und schlüssig sein („indices graves, précis et concordants“).
Somit hat die Pariser Cour d’appel ein klares Zeichen gesetzt: die Kontrolle von Schiedssprüchen ist umso wichtiger, wenn Korruption und Geldwäsche in Frage stehen, da der Kampf gegen diese Straftaten einer der wichtigste Grundsätze der internationalen öffentlichen Ordnung ist.
Diese Änderungen führten zu Debatten über die Vereinbarkeit einer solchen Überprüfung mit dem für das Berufungsgericht geltenden Grundsatz des Verbots der révision au fond16.
Bis jetzt existieren nur zwei Entscheidungen des Kassationsgerichtshofs zu den Urteilen der Cour d’appel de Paris von 2014 und 2017, und zwar in den Fällen Indagro17und Gulf Leaders18. Dabei hat sich der Kassationsgerichtshof aber nicht ausdrücklich für oder gegen eine umfassende Ordre public-Kontrolle geäußert. Es ist zurzeit also nicht absehbar ist, welche Position der Kassationsgerichtshof in späteren Urteilen diesbezüglich einnehmen wird19.
Während die Debatte daher offen bleibt, festigt sich die Rechtsprechung der Pariser Cour d‘appel mit jeder neuen Entscheidung.
3. Die Entscheidung vom 30. Juni 2020
Die Pariser Cour d‘appel erinnerte in der hier besprochenen Entscheidung zunächst daran, dass es die Befugnis hat, eine gründliche Kontrolle im Hinblick auf die dem Schiedsspruch zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Aspekten im Zusammenhang mit der Korruption durchzuführen, und präzisiert, dass es in dieser Hinsicht nicht an die Schlussfolgerungen des Schiedsrichters gebunden ist. Das Gericht verwendete hier die gleiche Definition der Korruption (inspiriert vom französischen Strafrecht), die es bereits im Jahr 201420 angewendet hatte.
Die Pariser Cour d‘appel kontrollierte in der aktuellen Entscheidung insbesondere die Natur der Beziehungen zwischen den angeblichen Tätern und dem Opfer der Korruption. Dafür wurde auf Zeugenaussagen verwiesen, die vor dem Schiedsgericht abgegeben wurden, und darauf, dass der dem Schiedsgericht vorliegende Sachverhalt mit demjenigen identisch ist, über den bereits die Schweizer Strafgerichte zu entscheiden hatten. Somit stellte es fest, dass die Elemente, die die von Sheikh Faisal behauptete Korruption charakterisieren, nicht vorhanden sind. Darüber hinaus entschied die Pariser Cour d‘appel, dass die von Sheikh Faisal vorgebrachten Tatsachen nicht genügend schwerwiegende, präzise und zusammenhängende Indizien („faisceau d’indices graves, précis et concordants“) für das Vorliegen eines Korruptionssachverhalts bieten. Dabei zählte das Gericht eine Reihe von Elementen auf, die nicht als ein Bündel von Hinweisen auf Korruptionen dienen können.
Die Argumentation der Pariser Cour d’appel ist also synthetisch, geht nicht allzu sehr ins Detail, und unterscheidet sich somit von den früheren Entscheidungen bezüglich derselben Thematik21. Es bleibt fraglich, weshalb die aktuelle Entscheidung so wenig ins Detail geht.
Möglicherweise erklärt sich dies dadurch, dass die Pariser Cour d’appel im vorliegenden Fall in einer Situation war, wo die Methode des Indizienbündels tatsächlich nicht unbedingt geeignet und notwendig war. Anders als in den bisherigen von der Pariser Cour d’appel geprüften Korruptionsfällen, hatten hier tatsächlich mehrere Gerichte (Schiedsgerichte, Schweizer Strafgerichte und französische Gerichte im Aufhebungsverfahren) die Korruptionsvorwürfe schon ins Detail geprüft und entschieden, dass nicht genügend Indizien vorlagen, um den Korruptionstatbestand zu bejahen.
Eine andere Erklärung könnte auch sein, dass es sich hier um Korruption im Rahmen von Privatverträgen handelte, wohingegen eine frühere Entscheidung22, in dem das faisceau d‘indices benutzt wurde, die Bestechung von Amtsträgern betraf, die man als solche bereits als den gewichtigeren Verstoß gegen die öffentliche Ordnung charakterisieren könnte.
Eindeutig lässt sich diese Bewertung jedoch aus der Entscheidung nicht ableiten, sodass abzuwarten bleibt, ob das Berufungsgericht in kommenden Urteilen mehr Klarheit in dieses Thema bringen wird.
1 Seraglini/Ortscheidt, Droit de l‘arbitrage interne et international, Montchrestien, 2. Auflage, 2019, Rn. 35
2 Bestimmte Artikel, die auf nationale Schiedsverfahren anwendbar sind, sind auch durch den Verweis im Artikel 1506 CPC vorgesehenen Verweis auf internationale Schiedsverfahren anwendbar.
3 Dies ist der Fall, da in der Regel der Schiedsort Paris ist. Sollte ein anderer französischer Schiedsort ausgewählt worden sein, so ist das Berufungsgericht des ausgewählten Schiedsortes für das Aufhebungsverfahren zuständig, Art. 1519 I frz. Zivilprozessordnung – Code de procédure civile.
4 CA Paris, 30 Juni 2020, Nr. 17/22515.
5 CA Paris, 4 März 2014, Nr. 12/17681.
6 Cass. civ. 1, 6 Okt. 2010, Nr. 09-10.530; Cass. civ.1, 11 März 2009, Nr. 08-12.149; Cass. civ., 25 Okt. 2005, Rev. arb. 2006, S. 147.
7 « Le recours en annulation n'est ouvert que si : (…) 5° La reconnaissance ou l'exécution de la sentence est contraire à l'ordre public international ».
8 JCl. – Fasc. 586-10 : Arbitrage commercial international – Sentence arbitrale – Contrôle étatique. Droit commun, 1 April 1992, Rn. 76, 77 und 87.
9 L.-C. Delanoy, « Les allégations de corruption et le contrôle de la sentence au regard de l’ordre public : vers un revirement de la Cour de cassation ? », Cass. civ.1, 24 Juni 2015, Rev. arb. 2016, S. 221-234, Rn. 5 ; Ch. Seraglini/ J. Ortscheidt, Droit de l‘arbitrage interne et international, Montchrestien, 2. Auflage, 2019, Rn 1002 ;
10 L.-C. Delanoy, « Les allégations de corruption et le contrôle de la sentence au regard de l’ordre public : vers un revirement de la Cour de cassation ? », Cass. civ.1, 24 Juni 2015, Rev. arb. 2016, S. 221-234, Rn. 5 ; CA Paris, 18 Nov. 2004, Thalès ; CA Paris, 10 Sept. 2009, Rev.arb. 2010, S. 548, L-C. Delanoy.
11 Civ.1, 4 Juni 2008, Nr. 06-15.320 Cytec.
12 Ch. Seraglini/ J. Ortscheidt, Droit de l‘arbitrage interne et international, Montchrestien, 2. Auflage, 2019, Rn 1002 - 1003.
13 Cass. civ. 1, 12 Feb. 2014, Rev. arb. 2014, S. 389, D. Vidal.
14 CA Paris, 4 März 2014, Nr. 12/17681. Siehe auch im gleichen Jahr CA Paris, 14 Okt. 2014, Nr. 13/03410, République du Congo ./. Commisimpex ; CA Paris, 4 Nov. 2014, Rev. arb. 2015, p. 559, C. Fouchard.
15 CA Paris, 16 Mai 2017, Nr. 15/17442, République du Congo; CA Paris, 21 Febr. 2017, Nr. 15/01650, Belokon; CA Paris, 27 Sept. 2016, Nr. 15/12614 ; CA Paris, 10 April 2018, Nr. 16/11182 und CA Paris, 28 Mai 2019, Nr. 16/11182 Alstom.
16 siehe dazu : Ch. Seraglini, « L'intensité du contrôle du respect par l'arbitre de l'ordre public : Note - Cour d'appel de Paris (1re Ch. C.) 14 juin 2001 », Rev. arb. 2001, S. 781, Rn. 31; J. Pellerin, « Rôles et fonctions de la cour d’appel », Rev. arb. 2018, S. 37, Rn. 12 ff. ; L-Ch. DELANOY, « Le contrôle de l’ordre public au fond par le juge de l’annulation : trois constats, trois propositions », Rev. arb. 2007, p. 177, Rn. 22 ff.; Ch. Seraglini, « Le contrôle de la sentence au regard de l’ordre public international par le juge étatique : mythes et réalités », Cah. arb. 2011, S. 198 f.
17 Cass. civ.1, 13 Sept. 2017, Nr. 16-25.657 und 16-26.445.
18 Cass. civ.1, 24 Juni 2015, Nr. 14-18.706.
19 L.-C. Delanoy, « Les allégations de corruption et le contrôle de la sentence au regard de l’ordre public : vers un revirement de la Cour de cassation ? », Cass. civ.1, 24 Juni 2015, Rev. arb. 2016, S. 221-234.
20 CA Paris, 4 März 2014, Nr. 12/17681.
21 Siehe z.B. im Alstom Fall, CA Paris, 28 Mai 2019, Nr. 16/11182.
22 Alstom Fall, CA Paris, 28 Mai 2019, Nr. 16/11182.