Unternehmenskauf in Frankreich: Wettbewerbsrechtliche Prüfung auch unterhalb der Fusionskontrollschwellen?
Die französische Wettbewerbsbehörde (Autorité de la concurrence, Entscheidung vom 6.11.2025, Nr. 22-D-19) hat das Unternehmen Doctolib zu einer Geldbuße von knapp über 4,6 Mio. € wegen wettbewerbsrechtlichen Verstößen insbesondere im Rahmen eines Unternehmenskaufs in Frankreich verurteilt.
Anlass war eine Beschwerde des Wettbewerbers Cegedim Santé gegen Praktiken, die auf eine Marktabschottung und die Verdrängung des Wettbewerbs zielten.
Im Kern ging es um folgende Verstöße:
- Übernahme des Hauptkonkurrenten MonDocteur im Jahr 2018, obwohl diese Transaktion ursprünglich nicht anmeldepflichtig war,
- sowie kartellrechtswidrige Exklusivitätsklauseln (clauses d’exclusivité) und Kopplungspraktiken in Verträgen mit Ärzt:innen, um die weitere Marktabschottung sicherzustellen.
Interne Unterlagen von Doctolib belegten, dass diese Maßnahmen gezielt eingesetzt wurden, um Wettbewerb auszuschalten, Preise zu erhöhen und die eigene Marktdominanz (position dominante) zu sichern.
1 Unternehmenskäufe unterhalb der Schwellenwerte können in Frankreich einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung darstellen
Die Entscheidung der französischen Wettbewerbsbehörde basiert maßgeblich auf dem sogenannten Towercast-Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, C‑449/21), das im Jahr 2023 erging und die Rechtslage revolutionierte.
Der EuGH stellte klar, dass auch Unternehmensübernahmen, die unterhalb der regulären Fusionskontrollschwellen stattfinden und nicht gemeldet werden müssen, nachträglich auf ihre kartellrechtliche Zulässigkeit geprüft werden dürfen.
Zentral ist, dass ein marktbeherrschendes Unternehmen (entreprise en position dominante) durch die Übernahme eines Wettbewerbers einen Machtzuwachs erlangen kann, der den Wettbewerb erheblich beschränkt oder gar ausschaltet. In diesen Fällen kann das Vorgehen als Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (abus de position dominante) nach Artikel 102 AEUV sowie nach Art. L. 420‑2 des französischen Code de commerce angesehen werden.
Im Fall Doctolib konnte die Wettbewerbsbehörde nachweisen (anhand interner Dokumente und Marktentwicklungen), dass:
- die Übernahme explizit der Ausschaltung des Hauptwettbewerbers galt,
- Preiserhöhungen von bis zu 20 % angestrebt und realisiert wurden,
- der Marktanteil nochmals wuchs und der Markteintritt für neue Wettbewerber faktisch unmöglich gemacht wurde.
Die französische Behörde betonte, dass selbst abgewickelte Transaktionen noch ex-post kontrolliert und sanktioniert werden können, sofern sich der wettbewerbswidrige Zweck nachweisen lässt. Aufgrund einer gewissen „Rechtsunsicherheit“ wegen der relativ neuen Towercast-Entscheidung wurde allerdings für diesen Verstoß eine nur symbolische Strafe von 50.000 € verhängt.
2 Verbot missbräuchlicher Exklusivitäts- und Kopplungsklauseln
Ein weiterer zentraler Aspekt waren die Exklusivitätsklauseln (clauses d’exclusivité) und sogenannten Anti-Aufteilungs-Klauseln (clauses d’anti-partage), die Doctolib bis in das Jahr 2023 in Verträgen mit Ärzten verwendete. Diese Klauseln untersagten es den Ärzt:innen, gleichzeitig mit anderen Anbietern zu arbeiten, oder erschwerten dies durch gezielte Abschreckung – eine Strategie, die in internen Unterlagen als „Lock-in-Position“ bezeichnet wurde.
Die Autorité stufte diese Praxis als klassischen Marktabschottungsmissbrauch nach Art. 102 AEUV und französischem Recht ein, der nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt war und die Position von Wettbewerbern unzulässig schwächte. Hierfür wurde die Hauptgeldbuße in Höhe von 4,615 Mio. € ausgesprochen.
3 Auswirkungen des Towercast-Urteils auf die kartellrechtliche Praxis
Die Towercast-Entscheidung des EuGH eröffnet es den Wettbewerbsbehörden, Zusammenschlüsse auch dann nachträglich auf Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu überprüfen, wenn sie nicht unter die Fusionskontrollvorschriften fallen und keinerlei Meldung oder Prüfung vorgesehen war. Dies erhöht die Unsicherheit für Unternehmen bezüglich solcher Transaktionen erheblich, insbesondere in dynamischen Märkten mit rasch wachsenden Start-ups.
Bemerkenswert ist, dass die Wettbewerbsbehörde von einer Rückabwicklung des Erwerbs absah, dies aber für die Zukunft ausdrücklich offenließ. Der Präsident der Autorité forderte erneut die Einführung eines „Call-in“-Mechanismus (mécanisme de contrôle a posteriori), damit die Behörde Transaktionen innerhalb eines festen Zeitrahmens gezielt kontrollieren kann.
4 Praxistipps: Wie Unternehmen Risiken vermeiden können
- Übernahmen gemeinsam mit Spezialisten prüfen:
Auch Unternehmenskäufe, die unterhalb der offiziellen Schwellenwerte liegen, sollten auf mögliche wettbewerbsrechtliche Risiken sowie auf die Rolle am Markt sorgfältig geprüft werden.
- Keine wettbewerbsbeschränkenden Klauseln nutzen:
Unternehmen sollten auf Exklusivitäts- und Lock-in-Klauseln verzichten, die Konkurrenten vom Markt ausschließen oder Kunden binden, außer es liegen nachweislich objektive und sachliche Rechtfertigungen vor.
- Interne Kommunikation überwachen:
Interne Mails und Präsentationen, die den Zweck einer Akquisition oder einer Vertragsanpassung begründen, können bei späteren Untersuchungen entscheidend sein. Gerade Aussagen zur Ausschaltung von Wettbewerbern sollten vermieden werden.
Die Entscheidung markiert einen wichtigen Meilenstein für die nachträgliche kartellrechtliche Kontrolle von Unternehmensübernahmen und die Anforderungen an marktbeherrschende Unternehmen im EU-Binnenmarkt (Autorité de la concurrence, Entscheidung vom 6.11.2025, Nr. 22-D-19, veröffentlicht im BOCCRF n°11 du 6 novembre 2025).
17.11.2025