Arztbesuch und Kündigung in Frankreich
Zur Erinnerung: Das französische Arbeitsgesetzbuch sieht vor, dass der Arbeitnehmer sich vor Beginn des Arbeitsvertrags oder spätestens bis zum Ablauf der Probezeit ärztlich untersuchen lassen muss. Zweck dieser Untersuchung ist zum einen die Überprüfung der Arbeitsfähigkeit des Arbeitnehmers, zum anderen, ihn über die eventuell mit seiner Arbeitsstelle gebundenen Risiken zu informieren.
In den letzten Jahren hat sich auch hierzu - wie zum Thema Mobbing, Bewertung der Risiken im Unternehmen, ärztliche Feststellung eines Arbeitsunfähigkeits-Zustandes, usw. - die Rechtsprechung des Französischen Kassationsgerichtshofs verschärft. Nun gehen Richter davon aus, dass der Arbeitgeber automatisch schadensersatzpflichtig ist, wenn festgestellt wird, dass kein Arztbesuch bei Arbeitsbeginn organisiert und durchgeführt worden ist (Kassationsgerichtshof, Arbeitsrechtliche Kammer, 17. Oktober 2012 Nr. 10-14.248; 15. Januar 2014 Nr. 12-24.701), was wir bereits in Januar 2011 erläutert haben nach der Entscheidung des Kassationsgerichtshofs vom 5. Oktober 2010, Nr. 09-40.913 (siehe Newsletter zum französischen Arbeitsrecht 01/2011).
Allerdings war die Frage noch offen, ob der Arbeitnehmer aus demselben Grund, nämlich den mangelnden Arztbesuch, das Unternehmen verlassen kann mit der Mitteilung, dass das Verhalten des Arbeitgebers einer unbegründeten Kündigung seinerseits entspricht.
Dieses Vorgehen wird in Frankreich „prise d’acte“ genannt und führt in der Regel zu einer Klage vor dem Arbeitsgericht, das dann entscheiden soll, ob das Verhalten des Arbeitgebers tatsächlich verwerflich ist. Bejaht das Gericht diese Frage, treffen den Arbeitgeber die gleichen Folgen als hätte er eine unbegründete Kündigung ausgesprochen und dies, obwohl tatsächlich die Initiative vom Arbeitnehmer ausgegangen ist.
Nun haben die Richter der obersten Instanz entschieden: Wenn der Arbeitgeber mit der Festsetzung und Durchführung des Arztbesuches „gutgläubig“ in Verzögerung gekommen ist und dies auf einer einfachen Fahrlässigkeit beruht, ist dieses Verhalten nicht verwerflich genug, um die Folgen einer unbegründeten Kündigung mit sich zu bringen.
Vielmehr wird das Ausscheiden des Arbeitnehmers einer Kündigung seinerseits gleichgestellt und der Arbeitnehmer kann verurteilt werden, seinem Arbeitgeber eine Entschädigung für die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist zu zahlen.
Auschlaggebend bei dieser neuen Entscheidung vom 18. März 2015 ist, dass der Arbeitnehmer nie um eine ärztliche Untersuchung gebeten hatte und sein Gesundheitszustand keine Anpassung seines Arbeitsplatzes oder eine ärztliche Aufsicht erforderte.
Somit war die mangelnde ärztliche Untersuchung nicht auf eine Verweigerung sondern auf eine einfache Fahrlässigkeit des Arbeitgebers zurückzuführen.
Diese Entscheidung entspricht der neuen Rechtsprechung des französischen Kassationsgerichtshofs, wonach manche Vertragsverletzungen seitens des Arbeitgebers, solange sie nicht grob sind, eine einseitige fristlose Kündigung durch den Arbeitnehmer nicht automatisch begründen. Nur wenn der Arbeitgeber die Erfüllung seiner Pflichten verweigert, kann eine solche Kündigung richterlich anerkannt werden. Der Arbeitnehmer muss aber rasch handeln, denn zu weit zurückliegende Vertragsverletzungen können nicht mehr geltend gemacht werden.
Praxistipp: Auch wenn der Weg zur Feststellung einer groben Vertragsverletzung des Arbeitgebers für Mitarbeiter erschwert ist, bleibt der Arbeitgeber stets schadensersatzpflichtig. Zur Sicherheit gilt also stets, den Arztbesuch rechtzeitig zu organisieren. Hierfür kann der zuständige Arzt über die sog. gelben Seiten („pages jaunes“) mit der Angabe („service de santé au travail“) kontaktiert werden. Sollten Sie keine Niederlassung in Frankreich haben ist es bei einigen Ärzten erforderlich, zusammen mit dem Beitrittsformular, in einem Begleitschreiben diese Sondersituation zu erläutern.
01.04.2015