Burnout am Arbeitsplatz: Weltschmerz oder Berufskrankheit?
In einer Kolumne des französischen „Journal du dimanche“ vor Ende des Jahres 2014, haben 30 Abgeordnete der französischen Nationalversammlung eine Petition für die gesetzliche Anerkennung von zwei neuen pathologischen Zuständen als arbeitsbedingte Krankheiten publiziert: Die Depression infolge eines tiefen Erschöpfungszustandes sowie den posttraumatischen, arbeitsbedingten Stress. Hierbei handelt es sich um medizinische Qualifizierungen eines Zustandes, der landläufig als „Burn-out“ bezeichnet wird.
Die Anerkennung dieser Zustände als arbeitsbedingte Krankheiten hätte zum einen zur Folge, dass der Arbeitnehmer aufgrund des erlittenen Schadens zusätzlich zu einem Vorgehen vor dem Arbeitsgericht auch vor dem Sozialgericht klagen könnte. Zum anderen hätte sie auch zur Folge, dass die Arbeitgeber die in Frankreich Personal einstellen, bereits vorab entsprechende Vorleistungen zahlen müssten, da die Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle nicht von der allgemeinen Krankenkasse, sondern von einer spezifisch, von Arbeitgebern durch Sozialabgaben finanzierten Branche der Krankenkasse abhängen.
Natürlich sind durch Stress am Arbeitsplatz hervorgerufene Krankheiten weder ein ausschließlich französisches, noch ein besonders neues Problem. Jedoch handelt es sich um ein aktuelles Thema, das heute quasi systematisch, zumindest sekundär, bei Streitfällen vor den französischen Arbeitsgerichten von Arbeitnehmerseite vorgebracht wird.
Nach Ansicht von Experten sind in Frankreich 3,2 Millionen Arbeitnehmer von einem hohen Risiko, ein Burn-out zu erleiden, betroffen, was Arbeitgeber in Frankreich aufgrund der hiermit verbundenen finanziellen Konsequenzen anregen sollte, ein verstärktes, an Prävention orientiertes Interesse für dieses Thema aufzubringen.
Die erwähnte Petition gibt insofern begründeten Anlass, nicht nur die Rahmenvereinbarungen zu den psychischsozialen Risiken am Arbeitsplatz (I.), die Auslegung der Schutzpflichten des Arbeitgebers durch die französischen Gerichte und die gegebenen Rechtswege (II.), sowie die Präventionspflicht des Arbeitgebers (III.) zu durchleuchten, sondern ferner über praktische Lösungsansätze für den Arbeitgeber nachzudenken (IV.).
- Die Rahmenvereinbarungen zu den psychisch-sozialen Risiken am Arbeitsplatz
Wie bereits erwähnt, betrifft die Problematik des Stresses am Arbeitsplatz nicht nur Arbeitgeber in Frankreich. So ist zum Beispiel in Belgien am 1. September 2014 ein Gesetz in Kraft getreten, nach dem in Belgien ansässige Arbeitgeber, präventive Maßnahmen gegen „psychisch-soziale“ Risiken ergreifen müssen, welche zum einen eine Risikoanalyse und zum anderen psychologische Beratung von Arbeitnehmern beinhalten, um einem „Burn-out“ vorzubeugen.
Tatsächlich einigten sich die verschiedenen Sozialpartner auf europäischer Ebene bereits im Jahre 2004 in einer Rahmenvereinbarung zu Stress am Arbeitsplatz. Deren erklärtes Ziel war es nicht nur, das Bewusstsein und eine gewisse Sensibilität für diese Problematik hervorzurufen, sondern auch auf Vorzeichen hinzuweisen, die stressige Situationen am Arbeitsplatz andeuten.
Diese europäische Rahmenvereinbarung wurde im Jahre 2008 in Frankreich durch eine nationale, branchenübergreifende Vereinbarung („Accord national interprofessionnel“, ANI) umgesetzt, welche die Grundlinien der europäischen Vereinbarung beibehielt. Neben den Zwecken der europäischen Vereinbarung (Steigerung des Problembewusstseins, Identifizierung der Vorzeichen), war ihr weiteres erklärtes Ziel, „einen Rahmen zu schaffen, der es Arbeitgebern wie Arbeitnehmern erlaubt, durch Stress hervorgerufene Probleme ausfindig zu machen, vorzubeugen und sich damit konkret auseinanderzusetzen.“
Die branchenübergreifende Vereinbarung hat dazu das Vorliegen von Stress bzw. Stress am Arbeitsplatz wie folgt definiert (Artikel 3: „ Beschreibung des Stresses und des Stresses am Arbeitsplatz“): Danach liegt ein Stresszustand vor, „wenn ein Ungleichgewicht zwischen der individuellen Wahrnehmung einer Person hinsichtlich der ihr von der Umwelt auferlegten Zwängen und der ihr hierzu zur Verfügung stehenden Mitteln besteht.“
Zwar ist nach dem Wortlaut der branchenübergreifenden Vereinbarung ein Individuum fähig, kurzfristigen Druck zu handhaben, es hat jedoch größere Schwierigkeiten, langfristigem oder wiederholtem, intensiven Druck standzuhalten. Auch können Stresssituationen unterschiedliche Reaktionen verursachen.
Stress -welcher am Arbeitsplatz durch unterschiedliche Faktoren wie Inhalt und Organisation der Arbeit, Umwelt oder auch Mobbingsituationen hervorgerufen werden kann- an sich ist keine Krankheit. Allerdings kann das längere Ertragen einer Stresssituation die Arbeitseffizienz verringern.
Um dem vorzubeugen und erhebliche menschliche und finanzielle Konsequenzen zu vermeiden, sollten die Arbeitgeber von in Frankreich tätigen Mitarbeitern nun handeln.
- Zur Auslegung der Schutzpflichten des Arbeitgebers durch die französischen Gerichte und zum Rechtsweg
Zwar sind bislang weder der Stress noch die durch Stress am Arbeitsplatz hervorgerufenen Krankheiten im französischen Gesetz als solche bislang konkret geregelt. Mit anderen Worten: Eine dem belgischen Recht vergleichbare gesetzliche Regelung existiert (noch) nicht.
Allerdings obliegt gemäß Artikel L.4121-1 des französischen Arbeitsgesetzes dem Arbeitgeber eine Schutzpflicht gegenüber seinen Arbeitnehmern. Hiernach hat er dafür Sorge zu tragen, dass diese bei der Ausführung ihrer Arbeitsleistung weder physischen noch psychischen Schaden erleiden. Die Reichweite dieser Schutzpflicht ist durch die Gerichte, und nicht zuletzt durch den Kassationsgerichtshof, interpretiert worden.
So hat die Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofes diese Schutzpflicht des Arbeitgebers seit den AsbestPräzedenzfällen vom 28. Februar 2002 besonders streng ausgelegt: Sobald feststeht, dass der Schaden bei oder kausal durch die Arbeit hervorgerufen worden ist, hat der Arbeitgeber seine Schutzpflicht verletzt und ist gegenüber dem betroffenen Arbeitnehmer schadensersatzpflichtig. Die Haftung des Arbeitgebers ist somit quasi immer gegeben.
Dem geschädigten Arbeitnehmer stehen kumulativ zwei Handlungsmöglichkeiten offen:
- Vor dem Arbeitsgericht kann der Arbeitnehmer im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens einen primären Schadensersatzanspruch wegen Verletzung der Schutzpflicht gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen. Gleichzeitig kann er gegebenenfalls auch einen erhöhten Schadensersatzanspruch wegen der Unbegründetheit der Kündigung geltend machen.
- Vor dem Sozialgericht kann der Arbeitnehmer die Berufsbezogenheit seiner Krankheit feststellen lassen und somit eine Verurteilung des Arbeitgebers aufgrund eines sog. „unentschuldbaren Fehlverhaltens“ („faute inexcusable de l’employeur“) erlangen.
Hierzu eine Zwischenbemerkung: Das französische Sozialversicherungsgesetz stellt für bestimmte Krankheiten Vermutungen dahingehend auf, dass diese kausal auf ausgeübten beruflichen Tätigkeiten beruhen. (Artikel L.461-1 und Artikel R.461-3 Annexe II des französischen Gesetzbuches zur Sozialversicherung). Es obliegt in diesem Fall dem Arbeitgeber, diese Kausalität zu widerlegen, was in der Tat nur selten gelingt.
Sind die Zustände nicht in die Tabelle aufgenommen oder werden sie nicht in Zusammenhang mit der vom Arbeitnehmer ausgeübten Tätigkeit gesetzt, obliegt es dem Arbeitnehmer, die Kausalität im Rahmen des vorgenannten Verfahrens darzulegen.
Letzteres ist der Fall der vorgenannten pathologischen Zustände wie Depression bzw. allgemeine Erschöpfung: Es obliegt dem Arbeitnehmer vor der für die Anerkennung der beruflichen Krankheit zuständigen Kommission und, ggfs. im Anschluss daran, vor den Gerichten den Kausalzusammenhang zwischen seiner Krankheit und der beruflichen Situation herzustellen. Werden seine Argumente von der regionalen Kommission zur Anerkennung von Berufskrankheiten („Comité régional de reconnaissance des maladies professionnelles“) angenommen, so kann der Arbeitnehmer u.a. verlängerte Ersatzleistungen von der Krankenkasse bis zur vollständigen Beseitigung des Unfähigkeitszustandes fordern.
Sollten nun aber, wie von den Abgeordneten in ihrer Kolumne gefordert, die aus einer beruflich bedingten BurnOut-Situation resultierenden Krankheitszustände in die Tabelle des Sozialgesetzes aufgenommen werden, würde dies zu einer Beweislastumkehr führen: Der berufliche Ursprung des Zustandes würde gesetzlich vermutet und es obläge dann dem Arbeitgeber, diese Kausalität zu widerlegen. Die Kostenübernahme durch die Krankenkasse sowie der dem Arbeitgeber gegenüber geltend gemachte Rückzahlungsanspruch wären somit bei fehlender Widerlegung der Vermutung automatisch zu leisten.
Neben den zivilrechtlichen Ansprüchen des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber kann der Arbeitgeber sich außerdem zusätzlich strafbar machen. Sollte z.B. die Arbeitsbelastung zum Selbstmord des Arbeitnehmers geführt haben, sind die französischen Strafverfolgungsbehörden immer häufiger geneigt, sowohl den Geschäftsführer als auch das Unternehmen als juristische Person strafrechtlich zu verfolgen. Verschiedene Berufungsgerichte haben in den letzten Jahren bereits Manager und Unternehmen strafrechtlich verurteilt.
Dieses hohe Risiko soll nun mit Hilfe von betriebsinternen Maßnahmen verringert werden.
- Zur Auslegung der Schutzpflichten bei psychisch-sozialen Risiken: Präventionspflicht des Arbeitgebers
Was nun die Problematik der durch „Stress am Arbeitsplatz“ hervorgerufenen Zustände, wie z. B. Depression oder auch eine generelle Erschöpfung, angeht, hat sich hierzu in den letzten Jahren eine umfassende Rechtsprechung der Arbeits- und Sozialgerichte entwickelt.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die behandelten Problematiken sich gerade durch eine besondere Komplexität auszeichnen, die die verschiedenen Aspekte, wie z.B. Mobbing (durch Vorgesetzte, Kollegen oder Dritte), Arbeitsüberlastung, defektive Managementstrukturen oder auch schlechte Kommunikation innerhalb des Betriebes, gleichzeitig umfassen.
Hierzu kurze illustrative Beispiele aus der Rechtsprechung:
- „ (…) das Berufungsgericht hat im Rahmen des ihm durch Artikel L.1235-1 des Arbeitsgesetzes zugestandenen Beurteilungsspielraums (zu Recht annehmen können), dass das Verhalten des Arbeitnehmers, wenn es auch Anlass zu tadeln gegeben hat, aufgrund des vom Arbeitgeber ausgeübten Drucks, keinesfalls einen wirksamen Kündigungsgrund darstellt (…).“ (Kassationsgerichtshof, Kammer für Arbeitssachen, Urteil vom 8. November 2011, Vorlage Nr. 10-12120);
- „(…) insofern als das Berufungsgericht (nicht nur) die (große) Arbeitsbelastung der Arbeitnehmerin zur Kenntnis genommen hat, welche diese zudem in ihrer jährlichen Evaluierung ab dem Jahr 2004 beklagt hatte, (sondern auch), das Ausbleiben einer Reaktion im Anschluss an die erste Bewertung durch den Betriebsarzt vom 30. Oktober 2007, das schwierige Verhältnis zu ihrem (unmittelbaren) neuen Vorgesetzten, welches durch eine Aussage eines früheren Arbeitnehmers sowie durch den Betriebsarzt belegt wurde (…); darüber hinaus hat die Arbeitnehmerin in ihrem Kündigungsvorgespräch auf ihre durch die Managementmethoden ihres Vorgesetzten hervorgerufene Erschöpfung und den auf die Belegschaft ausgeübten Druck hingewiesen… (Daraufhin) hat das Berufungsgericht zu Recht eine Verletzung der Schutzpflicht des Arbeitgebers, präventive Maßnahmen gegen Mobbing zu treffen, angenommen, (…)“ (Kassationsgerichtshof, Kammer für Arbeitssachen, Urteil vom 17. Oktober 2012, Vorlage Nr. 11-18.884);
- Durch den Verweis auf die Existenz von Emails, in denen sich der Arbeitnehmer über die abwertenden Bemerkungen des Arbeitgebers bzgl. seiner Person beschwert hat (…), als auch auf ärztliche Bescheinigungen, die einen depressiven Zustand aufgrund eines beruflich bedingten „Burn-Outs“ darlegen, sowie auf eine E-Mail, die den Inhalt eines Telefongespräches erwähnt, in dem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gegenüber gesagt hat, er solle „solange wie möglich krankgeschrieben bleiben und nicht zurück kommen“ (…), hat das Berufungsgericht zu Recht annehmen können, dass Handlungen des Mobbings vorlagen und dass der Arbeitgeber nicht glaubhaft dargelegt hat, dass diese Handlungen objektiv durch andere Umstände gerechtfertigt waren. (Kassationsgerichtshof, Urteil vom 19. Februar 2014, Vorlage Nr. 12-23191);
Der Kassationsgerichtshof ging zuletzt in einer neuen Rechtsprechung sogar noch einen Schritt weiter:
- „der Arbeitgeber, dem eine umfassende Schutzpflicht obliegt, verletzt diese, sobald ein Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz Opfer von Tatbeständen des Mobbings oder der sexuellen Nötigung wird, auch wenn er Maßnahmen ergriffen hat, derartigen Handlungen Einhalt zu gebieten.(…)“ (Kassationsgerichtshof, Urteil vom 19.November 2014, Vorlage Nr. 13-17729)
Mit anderen Worten: Den Arbeitgeber trifft nun eine Pflicht zur Prävention. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass es gar nicht erst zu solchen Handlungen kommt und kann bei konsequenter Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung automatisch bei Eintritt eines derartigen Schadens haften, auch wenn er direkt nach Kenntniserlangung der Probleme effektive Maßnahmen zur Beseitigung der Beeinträchtigung getroffen hat.
- Praktische Lösungsansätze für den Arbeitgeber
In Anbetracht der Rechtsprechung, die also quasi automatisch ein Verschulden und somit eine Haftung des Arbeitgebers annimmt, stellt sich zwangsweise die Frage, wie ein Arbeitgeber eine solche Situation beenden kann, von der er, manchmal auch aufgrund der geographischen Entfernung, keine Kenntnis hat.
Erschwerend kommt hinzu, dass er aufgrund der medizinischen Schweigepflicht, kein Wissen über die Krankheitsgründe eines Arbeitnehmers erlangt und von diesen meistens erst im Laufe eines Verfahrens erfährt, wenn es also längst zu spät für präventive Maßnahmen ist.
Wegen der finanziellen Risiken erscheint es dennoch ratsam, sich über ein mögliches Vorgehen weitere Gedanken zu machen. Gefordert ist grundsätzlich ein proaktives Verhalten von Seiten des Arbeitgebers.
Auch wenn eine gute, konstruktive Kommunikationsstruktur durch nichts zu ersetzen ist, ist es zudem ratsam, die Arbeitszeit der Belegschaft, und dabei gerade auch die der leitenden Angestellten, deren Überstunden als abgegolten gelten, auf ihre Einhaltung hin zu überprüfen.
Bestimmte Indikatoren können darüber hinaus Missverhältnisse am Arbeitsplatz aufzeigen, wie zum Beispiel: eine hohe Mitarbeiterfluktuation oder eine hohe Krankschreibungsrate (Anzahl von Betriebsunfällen, verbale oder körperliche Ausschreitungen am Arbeitsplatz, unangenehmes Betriebsklima), eine offensichtlich hohe Überstundenrate oder auch ein sinkendes Produktionsniveau.
Selbst wenn diese Indikatoren nicht vorliegen, bleibt es ratsam, selbstkritisch innerbetriebliche Organisations-und Kommunikationsstrukturen zu durchleuchten, zu hinterfragen und letztendlich gegebenenfalls zu ändern.
Für Geschäftsführer, die vom Ausland aus ein Unternehmen in Frankreich leiten, ist die Ernennung eines Stellvertreters vor Ort („pouvoir de délégation“) insbesondere in Bezug auf Gesundheits- und Schutzmaßnahmen letztendlich sehr empfehlenswert: Damit wird die Haftung, insbesondere im Fall eines strafrechtlichen Verfahrens übertragen.
14.01.2015