Frankreich: Haftung des faktischen Geschäftsführers in der Insolvenz
Im französischen Insolvenzrecht kommt der Haftung des faktischen Geschäftsführers eine große Bedeutung zu, und zwar gerade im Verhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft.
Wird die Muttergesellschaft als faktischer Geschäftsführer ihrer Tochter eingestuft, hat dies zur Folge, dass Haftungsansprüche gegen die Muttergesellschaft geltend gemacht werden können, die ansonsten zum Instrumentarium der Organhaftung gehören (1.).
Zum einen kann der Insolvenzverwalter vor dem Handelsgericht Klage wegen „Fehlbetragshaftung“ (sog. "action en comblement de passif") auf der Grundlage von Artikel L.651-2 des französischen Handelsgesetzbuchs (Code de commerce) erheben (2.).
Zum anderen können Arbeitnehmer der insolventen Tochtergesellschaft gegen die Mutter eine Klage aufgrund ihrer Mitarbeitgebereigenschaft (sog. "Co-emploi") oder eine Klage aus deliktischer Haftung auf der Grundlage von Artikel 1240 des französischen Zivilgesetzbuches (Code civil) erheben (3.).
Diese Ansprüche zielen darauf ab, dass die Muttergesellschaft ganz oder teilweise für die Verbindlichkeiten der insolventen Tochtergesellschaft haftet.
1. Der Begriff des faktischen Geschäftsführers im französischen Recht: Auch juristische Personen betroffen!
In Frankreich existiert eine reiche Rechtsprechung zum Begriff des faktischen Geschäftsführers. Ein faktischer Geschäftsführer ist danach eine Person, die selbstständig und ohne Weisungen unterworfen zu sein tatsächliche Geschäftsführungs- und Verwaltungshandlungen für ein Unternehmen im Hinblick auf seine Geschäftstätigkeit, Finanzen oder seine Personalangelegenheiten vornimmt. Im Unterschied zum deutschen Recht können von dieser Definition natürliche und juristische (!) Personen, also auch Unternehmen, erfasst sein.
Die französische Rechtsprechung zieht eine Anzahl von Indizien dafür heran, festzustellen, wann eine Person faktischer Geschäftsführer ist. Relevant sind insbesondere die folgenden Punkte:
- Zeichnungsbefugnis für Bankkonten des Unternehmens,
- Befugnis, ein Unternehmen zur Zahlung zu verpflichten,
- Besitz von Buchhaltungsunterlagen des Unternehmens,
- Auftreten als alleiniger Ansprechpartner des Unternehmens für Gläubiger,
- Aushandeln von Verträgen für das Unternehmen.
Die Personen, die in erster Linie betroffen sein können, sind: Ehemalige satzungsmäßige Geschäftsführer, die weiterhin aktiv an der Leitung des Unternehmens beteiligt sind, leitende Angestellte, Berater, Gesellschafter oder Aktionäre, aber eben auch Mutter-, Großmutter- oder Schwestergesellschaften und deren Geschäftsführer.
Die französische Rechtsprechung räumt in Bezug auf Gruppengesellschaften ein, dass das Funktionieren einer Unternehmensgruppe einen regen Austausch und eine Koordinierung zwischen den Unternehmen mit sich bringt. Auch wird die Muttergesellschaft bzw. ihr satzungsmäßiger Geschäftsführer nicht per se als faktischer Geschäftsführer einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft angesehen. Anders kann es jedoch sein, wenn die Muttergesellschaft tatsächlich in die Angelegenheiten der Tochter „hineinregiert“ und Geschäftsführungs- und Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, was gerade bei kleinen Tochtergesellschaften schnell der Fall sein kann.
Bei einer solchen Verschränkung der Interessen muss das die Muttergesellschaft treffende Haftungsrisiko bei der Bewältigung einer Liquiditätskrise der Tochter unbedingt berücksichtigt und antizipiert werden.
2. Die Voraussetzungen für die Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall
Artikel L.651-2 Code de commerce sieht vor, dass der Insolvenzverwalter satzungsmäßige oder faktische Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin auf Haftung in Anspruch nehmen kann, wenn im Laufe eines Insolvenzverfahrens mit Abwicklung (liquidation judiciaire) ersichtlich wird, dass ein Geschäftsführungsfehler dazu beigetragen hat, dass die Aktiva des Unternehmens dergestalt verringert wurden, dass nicht mehr alle Gläubiger befriedigt werden können und ein Fehlbetrag besteht.
Artikel L.651-2 Code de commerce ähnelt insoweit entfernt § 15b IV InsO, geht allerdings seinem Anwendungsbereich nach über diesen hinaus, da sein Anwendungsbereich nicht auf Zahlungen nach Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung beschränkt ist.
Ein Fehlbetrag wird in der Insolvenz regelmäßig festzustellen sein, so dass „nur“ noch ein Geschäftsführungsfehler nachgewiesen werden muss, der kausal hierzu beigetragen hat. Der Geschäftsführer kann sich jedoch exkulpieren, wenn er lediglich einfach fahrlässig gehandelt hat. Eine grobe Fahrlässigkeit ist allerdings auch nicht immer fernliegend.
Als haftungsbegründende Pflichtverletzungen des satzungsmäßigen oder faktischen Geschäftsführers können beispielsweise gelten:
- die verspätete Stellung des Insolvenzantrags,
- Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung, so dass diese die wahre wirtschaftliche Situation des Unternehmens nicht mehr widerspiegelt und keine Warnfunktion mehr hat,
- falsche oder verspätete Steuer- oder Sozialversicherungserklärungen,
- Aufnahme von Krediten, die in keinem Verhältnis zu den Zukunftsaussichten des Unternehmens stehen,
- Begründen von Verbindlichkeiten, die das Unternehmen ersichtlich nicht erfüllen kann,
- nicht sorgfaltsgemäße Entscheidungen zur allgemeinen Unternehmensstrategie, wie etwa Fortführung eines defizitären Betriebs ohne Hoffnung auf Besserung,
- Erwerb eines zu großen Warenbestands oder Weiterverkauf mit Verlust.
Eine von objektiven Gesichtspunkten geprägte „safe harbor“-Vorschrift wie die des § 15b Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 InsO gibt es im französischen Recht im Rahmen von Art. L.651-2 Code de commerce nicht, wenn auch typischerweise gerade Verhaltensweisen, die nicht mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers vereinbar sind, eine „faute de gestion“ darstellen und zur Fehlbetragshaftung führen.
Als Rechtsfolge muss der satzungsmäßige oder faktische Geschäftsführer die Masse dann unter Ausgleichung des Fehlbetrags ganz oder teilweise „auffüllen“, je nach Schwere des Verschuldens und Verursachungsbeitrag.
3. Mitarbeitgebereigenschaft und Allgemeine Deliktshaftung der Muttergesellschaft nach art. 1240 Code civil
Dass in Frankreich die Trennung zwischen zwei juristischen Personen nicht so klar durchgezogen wird, wenn eine starke wirtschaftliche Einmischung und Verschränkung zu verzeichnen ist und sich die Unternehmen „faktisch“ so verhalten, als handele es sich um ein einziges Unternehmen, zeigt sich besonders an der Rechtsprechung a) zum Grundsatz der Mitarbeitgebereigenschaft und b) zur allgemeinen Deliktshaftung der Muttergesellschaft als faktischem Geschäftsführer für die Insolvenz der Tochter.
a) Mitarbeitgebereigenschaft der Muttergesellschaft
Zuerst wurde das Prinzip der Mitarbeitgebereigenschaft der Muttergesellschaft von der Sozialkammer des französischen Kassationsgerichtshofs entwickelt, insbesondere in der Rechtssache Aspocomp vom 19. Juni 2007. In diesem Urteil wurde die Muttergesellschaft als Arbeitgeberin der Arbeitnehmer der Tochtergesellschaft anerkannt, ohne dass ein individuelles Unterordnungsverhältnis jedes einzelnen Arbeitnehmers der Tochtergesellschaft gegenüber der Muttergesellschaft nachgewiesen werden musste. Diese Anerkennung beruhte auf der Feststellung einer umfassenden Verflechtung der Interessen, Tätigkeiten und Leitung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft. Anfangs genügte diese Verflechtung, um die Mitarbeitgebereigenschaft zu begründen.
Um jedoch den Anwendungsbereich dieser Rechtsprechung einzuschränken, hat die Sozialkammer des Kassationsgerichtshofs in ihrem Urteil Molex vom 2. Juli 2014 eine zusätzliche Voraussetzung zur Anwendung dieses Grundsatzes festgelegt. Diese besteht in einer Einflussnahme auf die wirtschaftliche und soziale Leitung der Tochtergesellschaft, "[...] die über die notwendige Koordinierung der wirtschaftlichen Maßnahmen zwischen den Gesellschaften desselben Konzerns und über die wirtschaftliche Beherrschung hinausgeht, die sich aus dieser Zugehörigkeit ergeben kann“.
Das Erfordernis einer dreifachen Interessen-, Tätigkeits- und Leitungsgemeinschaft wurde aufgegeben. Für das Vorliegen einer Mitarbeitgebereigenschaft genügt nunmehr "eine ständige Einmischung dieser Gesellschaft in die wirtschaftliche und soziale Führung der Arbeitgebergesellschaft, die zum völligen Verlust der Handlungsautonomie der Arbeitgebergesellschaft führt". In den Erläuterungen zu diesem Urteil führt die Sozialkammer aus: Der Verlust der Handlungsautonomie der Tochtergesellschaft, die nicht über die tatsächliche Befugnis verfügt, ihre Geschäfte im Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Verwaltung zu führen, ist entscheidend für den Nachweis einer anormalen und dauerhaften Einmischung der Muttergesellschaft, die es rechtfertigt, sich über den Grundsatz der rechtlichen Unabhängigkeit juristischer Personen hinwegzusetzen und die Muttergesellschaft als Mitarbeitgeber anzusehen.
In der Praxis ist die Anerkennung der Mitarbeitgebereigenschaft besonders relevant im Zusammenhang mit der Wirksamkeit betriebsbedingter Kündigungen ("licenciements pour motif économique") innerhalb einer Unternehmensgruppe, und ermöglicht die Inanspruchnahme der gesamtschuldnerischen finanziellen Haftung der Muttergesellschaft. Das Vorliegen eines Grundes für eine betriebsbedingte Kündigung kann fraglich sein, wenn andere Unternehmen der Gruppe ihre Geschäftstätigkeiten fortsetzen oder wenn die Entscheidung zur Einstellung allein von der Muttergesellschaft ausgeht. Bei anerkannter Mitarbeitgebereigenschaft können auch die anderen Gruppengesellschaften zu Schuldnern der Wiedereinstellungspflicht werden.
Da eine Mitarbeitgebereigenschaft schwierig zu belegen ist, stützen Arbeitnehmer mitunter ihre Klage alternativ auf eine allgemeine deliktische Haftung der Muttergesellschaft, um ihre Erfolgschancen zu erhöhen. Grundsätzlich sind nur die Arbeitsgerichte zuständig, wenn sich die Klage des Arbeitnehmers auf die Mitarbeitgebereigenschaft stützt. Beruht die Klage dagegen auf Artikel 1240 des Zivilgesetzbuches, sind die Zivilgerichte zuständig.
b) Deliktische Haftungsklage
Art. 1240 Code civil ist die allgemeine deliktische Generalklausel nach französischem Recht, die besagt: „Wer einem anderen durch eine Pflichtverletzung einen Schaden verursacht, muss diesen beheben.“
Unter eine solche allgemeine Pflichtverletzung („faute“) können auch Entscheidungen einer Muttergesellschaft zum Nachteil der Tochtergesellschaft, fallen, die zur Insolvenz der Tochter führen. Dadurch kann die (auch ausländische) Muttergesellschaft als Haftungsschuldner im Insolvenzverfahren der Tochter stark exponiert sein. Insbesondere muss sie gegebenenfalls die Kündigungsentschädigung für die Mitarbeiter der insolventen Tochter begleichen, die im Zusammenhang mit der von der Muttergesellschaft verursachten Insolvenz ihren Arbeitsplatz verloren hatten. Ein vermeintlicher „finanzieller Vorteil“ einer Insolvenz der Tochter für die Muttergesellschaft im Vergleich zu einer Schließung in bonis wird durch dieses Risiko mitunter schnell aufgezehrt.
Geprägt wurde die Rechtsprechung zur deliktischen Haftung der Muttergesellschaft im Jahre 2018 durch die Entscheidung des höchsten französischen Arbeitsgerichts in Sachen Lee Cooper (Cass. soc., Urteil vom 24. Mai 2018, n° 16-22881). Der Investmentfonds Sun Capital Partner Inc. hatte in diesem Fall den Interessen der Tochtergesellschaft Lee Cooper, einer bekannten Jeansmarke, in krassem Maße zuwidergehandelt: Die Tochter musste die Unternehmensgruppe in einem Umfang finanziell unterstützen, der ihre Leistungsfähigkeit überschritt. So wurde die Markenlizenz von Lee Cooper kostenlos innerhalb der Gruppe übertragen, während die Kosten der Aufrechterhaltung der Marke weiterhin Lee Cooper oblagen. Eine Immobilie der Tochter wurde zur Absicherung eines Kredits für ein anderes Gruppeunternehmen verpfändet. Obendrein veranlasste die Muttergesellschaft, dass Lee Cooper in massivem Umfang Produkte von einer Schwestergesellschaft kaufte, welche letztere unter Eigentumsvorbehalt erworben hatte. Als die Schwestergesellschaft den Kaufpreis nicht zahlte, sah sich Lee Cooper dem Herausgabeverlangen des ursprünglichen Verkäufers ausgesetzt. Dies alles geschah ohne Gegenleistung oder Kompensation. Lee Cooper musste schließlich Insolvenz anmelden. Sun Capital Partner Inc. wurde zum Schadenersatz für die Trennungskosten von den Mitarbeitern verurteilt, da die Muttergesellschaft die Tochter „ausgenommen“ hatte.
Zum Glück hat die französische Rechtsprechung der Versuchung erfolgreich widerstanden, diese Rechtsprechung grenzenlos auszuweiten. So zeigt die Rechtsprechung in Sachen Funkwerk vom gleichen Tag (Cass. soc., Urteil vom 24. Mai 2018, n° 16-18621) dass auch Argumente gegen eine Verantwortlichkeit der Tochtergesellschaft gefunden werden können. In diesem Fall sei die Tochter (hier das französische Lautsprecherunternehmen Bouyer) ohnehin in schlechter finanzieller Verfassung gewesen, die an die Muttergesellschaft zu zahlenden Management Fees seien nach eingehender Prüfung Gegenleistungen für reale Dienstleistungen gewesen und Liquiditätsbeihilfen der Tochter an die Mutter seien vollständig zurückgezahlt worden. Die Rechtsprechung ging hier sogar so weit, daran zu erinnern, dass es nicht Sache der Muttergesellschaft sei, anstelle der Tochter eine zukunftsfähige Geschäftspolitik aufzubauen
Die Lee Cooper-Rechtsprechung in Frankreich ähnelt thematisch entfernt der deutschen Existenzvernichtungshaftung nach § 826 BGB im Sinne der Trihotel-Entscheidung des BGH. Allerdings handelt es sich in Frankreich um eine „Durchgriffs-Außenhaftung“ der Muttergesellschaft gegenüber Gläubigern und insbesondere Arbeitnehmern und nicht um eine die Kapitalerhaltungsvorschriften ergänzende, schadensersatzrechtliche Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft wie in Deutschland.
Außerdem scheint die Schwelle der Haftung in Frankreich nach der Lee Cooper-Rechtsprechung niedriger zu sein als die der Trihotel-Rechtsprechung, da eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung von der französischen Rechtsprechung nicht verlangt wird.
Tipp:
Die besonders stark ausgeprägte Haftung faktischer Geschäftsführer, und insbesondere der Muttergesellschaft, ist bei dem Umgang mit einer französischen Tochtergesellschaft in der Krise stets von langer Hand zu antizipieren.