Französische Rechtsprechung zur Schadensminderungspflicht – aktueller Wandel
Der französische Kassationsgerichtshof (Cour de cassation) hatte in einer aktuellen Entscheidung vom 5. Juni 2025 (Nr. 21-23.456) zu beurteilen, ob und unter welchen Voraussetzungen Geschädigte im französischen Zivilrecht dazu verpflichtet sind, ihren erlittenen Schaden aktiv zu begrenzen – also eine sogenannte Schadensminderungspflicht (obligation de minimiser le dommage) besteht.
Der Fall betraf einen Landwirt, der gegen ein Industrieunternehmen klagte, das seine Weideflächen durch Umweltverschmutzung kontaminiert hatte. Der geschädigte Landwirt nutzte die betroffenen Flächen weiterhin und machte Schadensersatz geltend. Das Unternehmen warf ihm vor, er habe durch sein Verhalten zur Schadensvergrößerung beigetragen und müsse sich dies anspruchsmindernd anrechnen lassen.
1 Grundprinzipien im französischen Haftungsrecht
Das französische Zivilrecht folgt traditionell dem Prinzip der vollständigen Entschädigung des tatsächlich entstandenen Schadens (principe de la réparation intégrale). Ziel ist es, den Zustand vor dem Schadensereignis wiederherzustellen, ohne dass der Geschädigte daraus einen Gewinn zieht („weder Verlust noch Gewinn“ – ni perte ni profit). Im Unterschied zum deutschen Recht (§ 254 Abs. 2 BGB) kennt das französische Recht grundsätzlich keine allgemeine Pflicht des Geschädigten, den eigenen Schaden im Interesse des Schädigers zu begrenzen. Die Cour de cassation hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass eine solche Obliegenheit dem französischen Recht fremd ist. Insbesondere reicht es nicht aus, wenn ein Geschädigter bloß keine Maßnahmen zur Schadensreduktion ergreift; daraus folgt nicht automatisch eine Anspruchskürzung.
2 Entwicklung zur Mitverursachung durch Untätigkeit
Bislang wurde eine Anspruchskürzung nur dann anerkannt, wenn der Geschädigte durch ein eigenes, positives Verschulden (faute de la victime) den Schaden selbst (mit-)verursacht hat. In früheren Entscheidungen unterschied das Gericht noch präzise zwischen einem eigenen unzureichenden Schutzverhalten und einer eigenständigen Verpflichtung, den Schaden aktiv zu verringern. Zum Beispiel lehnte die Cour de cassation im Urteil vom 19. Juni 2003 (Nr. 00-22.302) eine Anspruchskürzung bei bloßer Untätigkeit ab.
Anders verhielt es sich schon im Urteil vom 2. Juni 2021 (Nr. 19-19349), wonach eine Haftungsreduzierung nur in Betracht kommt, wenn ein Verschulden des Geschädigten tatsächlich kausal für den erweiterten Schaden war. Das bloße Verschulden ohne Mitkausalität genügte der Cour de cassation damals nicht.
3 Neue Linie: Passives Verhalten kann anspruchsmindernd sein
Mit Urteil vom 5. Juni 2025 hat die Cour de cassation ihre bisherige Linie teilweise korrigiert. Sie hält zwar weiterhin am Grundsatz fest, dass keine allgemeine Schadensminderungspflicht besteht. Zugleich stellt das Gericht jedoch klar, dass Geschädigte, die durch ihr Verhalten – gleich ob aktiv oder passiv – zur Schadensvergrößerung beitragen, eine Mitverursachung (faute de la victime) zu vertreten haben, die den Ersatzanspruch entsprechend mindern kann.
Im konkreten Fall argumentierte der klagende Landwirt, seine Passivität (das Weiterbeweiden der kontaminierten Flächen) sei kein aktives Verschulden. Die Cour de cassation entschied jedoch, dass auch das bewusste Unterlassen von zumutbaren Schutzmaßnahmen gegen eine weitere Schadensausweitung anspruchsmindernd wirken kann, sofern das Unterlassen kausal für die Ausweitung des Schadens ist.
4 Bewertung und Tendenzen: Keine formelle Pflicht, aber de-facto Schadensminderung?
Die aktuelle Entscheidung verschiebt die Grenze zwischen bloßer Untätigkeit und der Annahme eines (Mit-)Verschuldens. Während bisher nur aktives, schuldhaftes Verhalten zu einer Anspruchsminderung führte, kann nun auch das bewusste Nicht-Handeln, sofern eine Schadensvergrößerung hierauf zurückgeht, als anspruchsmindernd gewertet werden.
Praktisch nähert sich das französische Haftungsrecht damit einer Schadensminderungspflicht an. Für Unternehmen bedeutet dies, dass auch in Frankreich künftig Passivität potenziell zu einer Kürzung von Schadensersatzansprüchen führen kann – immer vorausgesetzt, dass das Unterlassen in Kenntnis aller Umstände erfolgt und der nachfolgende Schaden darauf zurückzuführen ist.
15.07.2025