Sondermeldung: Zulässigkeit betriebsbedingter Kündigungen bei Schließung einer französischen Niederlassung höchstrichterlich in Frage gestellt
Der französische Kassationshof hat mit einem Urteil vom 18. Januar 2011 die Bedingungen für betriebsbedingte Kündigungen in Konzernen, die ihre französischen Standorte schließen, um die Arbeitsplätze in Niedriglohnländer zu verlagern, deutlich verschärft.
Nach der Entscheidung des Kassationshofes kann ein französisches Unternehmen die Entlassung seiner gesamten Belegschaft nicht mehr damit begründen, dass es seine Tätigkeit einstellt, sofern das Unternehmen einer Unternehmensgruppe angehört und ein anderes Unternehmen dieser Gruppe als „Mitarbeitgeber“ (coemployeur) betrachtet werden kann.
- Bisherige Rechtsprechung
Zur Erinnerung: Nach französischem Arbeitsrecht kann eine betriebsbedingte Kündigung nur durch folgende 4 Ursachen begründet werden:
- Wirtschaftliche Schwierigkeiten;
- technologische Veränderungen;
- die notwendige Umstrukturierung, um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten;
- die definitive und gänzliche Tätigkeitseinstellung, sofern sie nicht leichtfertig erfolgt.
Die französische Rechtsprechung hat Ende der 90er begonnen, die Zugehörigkeit des Unternehmens zu einer Unternehmensgruppe bei der Prüfung des betriebsbedingten Kündigungsgrunds zu berücksichtigen und hat in Bezug auf den Kündigungsgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten gefordert, dass diese nicht nur beim kündigenden Unternehmen, sondern auch im gesamten Tätigkeitsbereich der Unternehmensgruppe, also etwa auch bei Schwestergesellschaften in anderen Ländern vorliegen.
Was ein Tätigkeitsbereich ist, wird im Einzelfall entschieden. Wenn sich mehrere Unternehmen einer Gruppe weltweit dieselben oder vergleichbare Produkten herstellen oder vertreiben, so ist davon auszugehen, dass sie dem selben Tätigkeitsbereich angehören.
Dies bedeutet wiederum, dass ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten des französischen Unternehmens Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen nicht begründen können, wenn Schwestergesellschaften z. B. in Asien oder Osteuropa mit einer ähnlichen Tätigkeit schwarze Zahlen schreiben.
Anfang des Jahrtausends hat wurde diese Rechtsprechung auf den Kündigungsgrund der „Umstrukturierung zur Aufrechthaltung des Wettbewerbs des Unternehmens“ ausgedehnt: Diese wurde fortan nur noch dann anerkannt, wenn die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Tätigkeitsbereichs innerhalb der Unternehmensgruppe, der das Unternehmen angehört, durch die Kündigungsmaßnahmen sichergestellt wird.
Durch die Betrachtung der Kündigungsgründe auf Ebene der Unternehmensgruppe wird die Kündigung von Arbeitnehmern aus wirtschaftlichen Gründen erheblich erschwert, da der Arbeitgeber nachweisen muss, dass die so erzielte Lohnersparnis die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Tätigkeitsbereichs verbessert, was selten zu bejahen ist.
- Die Entscheidung vom 18. Januar 2011
Der französische Kassationshof hat die Betrachtung auf Ebene der Gruppe durch Beschluss vom 18. Januar 2011 nun auch auf den Kündigungsgrund der definitiven und gänzlichen Tätigkeitseinstellung ausgeweitet.
Nach Auffassung des Gerichts könne die Muttergesellschaft oder aber eine andere Gesellschaft aus der selben Unternehmensgruppe unter Umständen als sog. Mitarbeitgeber (coemployeur) angesehen werden, sofern diese die strategische Entscheidung, das französische Unternehmen zu schließen, getroffen hat und sie auch zuvor alle andere grundsätzlichen Entscheidungen im Bereich der Unternehmensführung getroffen hat. Im entschiedenen Fall hat der Kassationshof dies bejaht und die betriebsbedingten Kündigungen wegen Tätigkeitseinstellung des beschäftigenden Unternehmens für unbegründet erachtet.
In dem vom Kassationshof entschiedenen Fall wurde eine solche Mitarbeitgeberschaft aus den folgenden Gründen angenommen:
- Die Produktion des entlassenden Unternehmens wurde zu 80 % von der Gruppe abgenommen;
- diese hat die Kaufpreise bestimmt;
- die Personalleitung erfolgte durch die Muttergesellschaft;
- die Leitungskräfte waren dieselben Personen wie bei der Muttergesellschaft;
- fer Sozialplan wurde durch die Unternehmensgruppe finanziert.
Der Umstand, dass es sich um juristisch getrennte Personen handelte, sei nach Auffassung des Kassationshofes unbeachtlich.
Aus dem Urteil wird leider nicht ersichtlich, welcher Zusammenhang nach Auffassung der Richter zwischen der angeblichen Mitarbeitgeberschaft und der Unbegründetheit der Kündigung wegen Tätigkeitseinstellung besteht: Es könnte sein, dass die Richter der Auffassung waren, dass die Tätigkeitseinstellung nur den einen (französischen) Mitarbeitgeber betrifft und nicht den anderen (hier: deutsche Muttergesellschaft) und somit nicht vollständig war. Denkbar ist auch, dass der Kassationshof schlicht den Kündigungsgrund der Tätigkeitseinstellung für Unternehmen, die innerhalb einer Unternehmensgruppe von einem anderen Unternehmen faktisch geführt werden, grundsätzlich sperren möchte.
Der Rückgriff auf den Kündigungsgrund der Tätigkeitseinstellung für die Entlassung der gesamten Belegschaft eines Unternehmens sollte fortan besonders vorsichtig erfolgen, wenn nicht ganz gemieden werden, sofern dieses Unternehmen einer Gruppe angehört.
Diese Einschätzung wird auch durch ein weiteres Urteil des Kassationshofs vom 1. Februar 2011 bestätigt. In diesem Urteil wurde die Voraussetzung der Tätigkeitseinstellung nicht eigenständig geprüft, sondern zum ersten Mal an das Vorliegen von wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder vom Vorhaben, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, geknüpft: Da im vorliegenden Fall weder wirtschaftliche Schwierigkeiten vorlagen – wobei hier der Kassationshof nur die Lage des betroffenen Unternehmens zu berücksichtigen schien, und nicht die des gesamten Tätigkeitsbereichs – noch die Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, wurde die Betriebsschließung als leichtfertig und die Kündigung als unbegründet betrachtet.
Ob diese neue Rechtsprechung, welche zum eindeutigen Ziel hat, Betriebsverlagerungen in Niedriglohnländer zu unterbinden, auch in Fällen anwendbar ist, wenn das Unternehmen keiner Gruppe angehört, ist fraglich. Ob mit dieser Rechtsprechung das gewünschte Ziel, Arbeitsstellen in Frankreich zu sichern, erreicht wird mag ohnehin bezweifelt werden.
Diese Rechtsprechung könnte auch Unternehmensgruppen, deren französische Tochtergesellschaft aber nicht der gesamte Tätigkeitsbereich notleidend ist, dazu verleiten, die Schließung des Unternehmens über eine Insolvenz abzuwickeln.
Cass. Soc., 18.01.11, n° 09-69.199; Cass. Soc., 01.02.11, n° 10-30.045
Praxistipp:
Sollten Sie die Einstellung der Tätigkeit ihrer französischen Tochtergesellschaft und die betriebsbedingte Entlassung der Mitarbeiter planen, sollte geprüft werden, ob bei Ihnen Sachverhalt vorliegt, der mit dem beiden Entscheidungen des Kassationshofs zugrundeliegenden Sachverhalt vergleichbar ist.
Sollte das Risiko der Annahme einer Mitarbeitgeberschaft vorliegen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der Kündigungsgrund der Tätigkeitseinstellung nicht mehr in Betracht kommen.
In diesem Falle sollte überlegt werden, die Kündigungen auf andere Kündigungsgründe zu stützen, etwa auf wirtschaftliche Schwierigkeiten und / oder die Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.
Kommt keiner der Kündigungsgründe in Betracht und ist die französische Tochtergesellschaft zahlungsunfähig, so käme als weitere Möglichkeit die Schließung über die Insolvenz in Betracht.
25.02.2011