Die Rentenreform in Frankreich
- Was sind die wichtigsten Maßnahmen dieser Rentenreform?
- Wer ist von der Reform betroffen?
- Wie rechtfertigte die Regierung ihre Reform?
- Was sind die Argumente der Kritiker?
- Werden Härtefälle und Behinderungen berücksichtigt?
- Sind Sonderregelungen von der Reform betroffen?
- Was sieht die Reform für die Beschäftigung älterer Menschen vor?
- Was ist für kleine Renten vorgesehen?
- Werden alle Rentner mindestens 1.200 Euro erhalten?
- Was sieht die Reform in Bezug auf lange Laufbahnen vor?
1. Was sind die wichtigsten Maßnahmen dieser Rentenreform?
Die Reform zielt zunächst darauf ab, das Renteneintrittsalter schrittweise von heute 62 Jahren auf 64 Jahre im Jahr 2030 zu erhöhen.
Diese Verschiebung wird ab dem 1. September 2023 schrittweise in Schritten von drei Monaten pro Jahr erfolgen, beginnend mit Rentenversicherten, die am 1. September 1961 geboren wurden.
Arbeitnehmer:innen können zwar heute mit 62 (später mit 64) Jahren in Rente gehen, müssen aber dennoch genügend Beitragsjahre eingezahlt haben, um eine volle Rente zu erhalten.
Derzeit liegt die Beitragsdauer bei 42 Jahren und wird ab 2027 auf 43 Jahre steigen. Auch diese Erhöhung wird schrittweise erfolgen, mit einem zusätzlichen Quartal pro Jahr.
Für Arbeitnehmer:innen, die nicht genügend Beitragsjahre eingezahlt haben, bleibt das volle Rentenalter (ohne Abschläge) bei 67 Jahren.
Während die Erhöhung des Renteneintrittsalters die Frage der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer:innen aufwirft, schafft das Gesetz einen "Seniorenindex", ein Anreizsystem, das die Situation der Arbeitnehmer am Ende ihrer Laufbahn in den Unternehmen verfolgen soll. Er wird ab November 2023 für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten und ab Juli 2024 für Unternehmen mit mehr als 300 Beschäftigten verpflichtend sein.
2. Wer ist von der Reform betroffen?
Die Reform verschiebt das gesetzliche Renteneintrittsalter von derzeit 62 Jahren auf 64 Jahre im Jahr 2030 und beschleunigt den Zeitplan für die Verlängerung der Beitragsdauer. Es können mehrere Fälle unterschieden werden:
- Personen, die vor dem 1. September 1961 geboren wurden, können weiterhin mit 62 Jahren in Rente gehen;
- Personen, die zwischen dem 1. September 1961 und dem 1. September 1965 geboren sind, deren Renteneintritt zwischen 62 und 64 Jahren liegt und deren Beitragsdauer verlängert wird;
- Personen, die nach 1966 geboren sind, deren gesetzliches Rentenalter 64 Jahre beträgt (mit Ausnahme der Personen, die besonders früh im Berufsleben eingetreten sind) und deren Beitragszeit verlängert wird.
3. Wie rechtfertigte die Regierung ihre Reform?
Ziel der Reform ist laut Präsident Macron die „Rettung“ des umlagefinanzierte Systems, die andernfalls gefährdet wäre, weil es weiterhin auf Kredit finanziert werden würde.
Selbst wenn das Rentensystem in einigen Jahrzehnten wieder ausgeglichen sein wird, wie es die Wirtschaftsprognosen voraussagen, warnte Premierministerin Elisabeth Borne vor dem Risiko der Anhäufung von Defiziten, die ihrer Meinung nach "150 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren" erreichen könnten. Die Reform der Regierung zielt auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts "bis 2030" ab. Laut der Folgenabschätzung des Gesetzentwurfs würde die Reform Einsparungen von 6,2 Mrd. EUR im Jahr 2027 und 11,8 Mrd. EUR im Jahr 2030 ermöglichen. Eine Reform, die der Regierung helfen würde, das Ziel zu erreichen, das öffentliche Defizit bis 2027 unter 3 % zu senken.
Arbeitsminister Olivier Dussopt musste jedoch am 4. März 2023 zugeben, dass seine Reform aufgrund der "flankierenden Maßnahmen", die bei der Prüfung des Textes in der Versammlung und im Senat hinzugefügt wurden, möglicherweise nicht zu einem ausgeglichenen Haushalt im Jahr 2030 führen wird. Ein "leichtes Defizit" von 300 Mio. oder 400 Mio. EUR wäre akzeptabel, erklärte der Arbeitsminister im Vergleich zum Status quo.
4. Was sind die Argumente der Kritiker?
Theoretisch gibt es keinen Zwang, dass das Rentensystem finanziell ausgeglichen sein muss. Einige sind der Ansicht, dass der Staat in der Lage ist, das System zumindest teilweise zu finanzieren, indem er jedes Jahr Mittel aus seinem Haushalt entnimmt, um das Rentendefizit auszugleichen.
Die Gegner der Reform in Frankreich sind der Ansicht, dass die Senkung der öffentlichen Ausgaben die erste Rechtfertigung für das Projekt ist, viel mehr als die dringende Notwendigkeit, das Rentensystem zu retten. Sie weisen darauf hin, dass das System über mehr als 163 Milliarden Euro an mobilisierbaren Reserven verfügt.
5. Werden Härtefälle und Behinderungen berücksichtigt?
Laut der französischen Regierung werden Härtefälle, insbesondere in beschwerlichen Berufen, ausreichend berücksichtigt. So seien drei "ergonomische Risiken" (Tragen schwerer Lasten, anstrengende Körperhaltungen, mechanische Vibrationen) in einen neuen Investitionsfonds zur Vermeidung von beruflichem Verschleiß aufgenommen worden. Dieser Fonds, der über einen Zeitraum von fünf Jahren mit einer Milliarde Euro ausgestattet ist, soll in den Unternehmen Maßnahmen zur Vorbeugung und Umschulung im Zusammenhang mit der Erschwernis finanzieren.
Das verabschiedete Gesetz sieht auch eine für Arbeitnehmer günstigere Berechnung der Härtefallpunkte für Arbeitnehmer vor, die den sechs heute anerkannten Risikofaktoren ausgesetzt sind (u. a. Nachtarbeit, Wechselschichtbetrieb, repetitive Arbeit, extreme Temperaturen). Andere Risikofaktoren (Tragen schwerer Lasten, anstrengende Körperhaltungen, mechanische Vibrationen und chemische Risiken) werden demgegenüber nicht berücksichtigt, so dass etwa Umzugshelfer, Bauarbeiter und Arbeiter, die chemischen Risiken ausgesetzt sind, nicht geschützt sind.
6. Sind Sonderregelungen von der Reform betroffen?
Der Begriff "Sondersysteme" beschreibt die Rentenkassen, die nicht dem allgemeinen System angehören:
- Die MSA für landwirtschaftliche Arbeitnehmer ;
- das System für Selbständige (ehemals RSI) ;
- die Systeme des öffentlichen Bereichs, für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und die Arbeitnehmer der öffentlichen Unternehmen und Einrichtungen, wie SNCF und RATP;
- private Sondersysteme, die autonomer sind, wie die Kasse für freie Berufe (CNAVPL) oder Rechtsanwälte (CNBF).
Der zuletzt verabschiedete Text sieht die schrittweise Abschaffung der wichtigsten Sondersysteme vor, darunter die der RATP (Öffentlicher Personennahverkehr), der Strom- und Gasindustrie (wie EDF), der Notarbeamten, der Mitglieder des CESE (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltrat) und der französischen Nationalbank. Wie bei der Reform im Bahnsektor von 2018 werden diese Systeme von der "Großvaterklausel" profitieren, was bedeutet, dass ihre Vorteile nur für Neueinstellungen (nach dem 1. September 2023) abgeschafft werden. Bereits beschäftigte Arbeitnehmer können ihre Sonderregelungen beibehalten.
Die anderen besonderen Rentensysteme (z. B. für Seeleute, die Pariser Oper, die Comédie Française), die autonomen Systeme der liberalen Berufe und die landwirtschaftlichen Systeme werden jedoch nicht reformiert.
7. Was sieht die Reform für die Beschäftigung älterer Menschen vor?
Im Mittelpunkt der Reform steht die Frage, wie die Beschäftigung älterer Menschen verbessert werden kann, damit sie mehr zu den Beiträgen und zum Gleichgewicht des Systems beitragen können. Die Regierung, die betont, dass der Anteil der 60-64-Jährigen in Beschäftigung einer der niedrigsten in Europa ist, wollte daher einen "Index" einführen, um die Arbeitslosigkeit der älteren Arbeitnehmer zu bekämpfen. Es handelt sich hierbei nicht um eine verbindliche Maßnahme, sondern um ein Transparenzinstrument, das die Unternehmen verpflichtet, Indikatoren zur Überwachung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu veröffentlichen. Es gibt (bislang) keine Pflichten in Bezug auf die Beschäftigung von Senioren.
Unternehmen mit mehr als 300 Beschäftigten müssen ab dem 1. Juli 2024 und ab dem 1. November 2023 in Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten Indikatoren (deren Liste und Berechnung per Dekret festgelegt wird) über die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer und die zu ihrer Förderung durchgeführten Maßnahmen veröffentlichen. Die Nichtveröffentlichung wird mit einer Strafe von bis zu 1 % der Lohnsumme belegt.
Durch die Reform wird außerdem versuchsweise eine neue Art von unbefristetem Arbeitsvertrag in das französische Arbeitsrecht eingeführt, um die Einstellung von Langzeitarbeitssuchenden über 60 Jahren zu erleichtern, der ein Jahr lang von den Familienbeiträgen (cotisations familiales) befreit ist. Auch wurden Vorschriften über eine Beschäftigung im Ruhestand geändert, damit Rentner, die wieder eine Beschäftigung aufnehmen, ihre Rente aufbessern können. Die Altersteilzeit (sog. retraite progressive), die es ermöglicht, zwei Jahre lang in Teilzeit zu arbeiten, bevor man in den Ruhestand geht, wird "flexibler" gestaltet und auf öffentliche Bedienstete ausgeweitet.
8. Was ist für kleine Renten vorgesehen?
Das Gesetz sieht vor, dass ab September 2023 der Mindestbeitrag (MICO), die Mindestrente für Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft, erhöht wird. Die Erhöhung wird je nach individueller Situation (Anzahl der gezahlten oder anerkannten Quartale usw.) sehr unterschiedlich ausfallen und zwischen 0 und 100 Euro pro Monat betragen. Es ist aber jetzt schon absehbar, dass nur sehr wenig (etwas über 10 %) der aktuellen Rentner die volle Erhöhung um 100 € in Anspruch werden nehmen können.
9. Werden alle Rentner mindestens 1.200 Euro erhalten?
Während des letzten Präsidentschaftswahlkampfes versprach Präsident Macron eine starke finanzielle Geste für Beziehende kleiner Renten und sprach von einer "Mindestrente von 1.100 Euro". Nach seiner Wiederwahl drängte der Präsident auf eine schnelle Umsetzung der Reform mit einer Änderung: Das Wahlkampfversprechen wurde von 1.100 auf 1.200 Euro angehoben, um die Inflation zu berücksichtigen.
In dem verabschiedeten Gesetz ist jedoch nirgends von einer Mindestrente die Rede. Artikel 18 sieht zwar eine Mindestrente von mindestens 85 % des Nettosoziallohns vor (d. h. 1.200 Euro brutto ab dem 1. September 2023), aber diese Regelung ist nur Arbeitnehmern vorbehalten, die während einer vollständigen Laufbahn in Vollzeit gearbeitet haben, d. h. die alle erforderlichen Quartale (derzeit 166 bis 172, je nach Geburtsjahr) angerechnet und eingezahlt haben.
Die französische Regierung räumte sodann auch ein, dass nur etwa 250.000 derzeitige Rentner dank der Reform eine Erhöhung ihrer Rente auf über 1.200 EUR brutto erhalten werden, ebenso wie 10.000 bis 20.000 neue Rentner pro Jahr. Dies sind allerdings weniger als 1,5 % der 17 Millionen Menschen, die bereits im Ruhestand sind, und 1,25 % bis 2,5 % der 800.000 zukünftigen Rentner pro Jahr.
10. Was sieht die Reform in Bezug auf lange Laufbahnen vor?
Vor der Reform konnte ein Berufsbeginn vor dem 20. Lebensjahr zu einem um zwei Jahre früheren Eintritt in den Ruhestand mit 60 Jahren führen. Ein Berufseinstieg vor dem Alter von 16 Jahren konnte zu einem Vorruhestand von vier Jahren im Alter von 58 Jahren berechtigen. Um davon profitieren zu können, musste der Versicherte am Ende des Jahres, in dem er 16 oder 20 Jahre alt wurde, fünf Quartale angerechnet bekommen haben.
Die Reform wird diese Regelung mit zwei neuen Altersgrenzen "anpassen":
- Die wenigen Personen, die vor dem 16. Lebensjahr mit der Arbeit begonnen haben, können weiterhin mit 58 Jahren in Rente gehen, d. h. sechs Jahre vor dem neuen gesetzlichen Renteneintrittsalter von 64 Jahren;
- Diejenigen, die vor dem 18. Lebensjahr angefangen haben, zu arbeiten, können mit 60 Jahren in Rente gehen, vier Jahre vor dem neuen gesetzlichen Rentenalter;
- Diejenigen, die vor dem 20. Lebensjahr begonnen haben, können immer noch zwei Jahre früher als das gesetzliche Rentenalter in den Ruhestand gehen, was dazu führt, dass sie erst mit 62 Jahren statt mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen;
- Diejenigen, die ihre Arbeit zwischen dem 20. und 21. Lebensjahr begonnen haben, können ein Jahr früher, also mit 63 Jahren, in Rente gehen.
Der Text der Rentenreform enthält auch eine Bestimmung, nach der es bestimmten Arbeitnehmern mit einer langen Laufbahn ermöglicht wird, nach 43 Beitragsjahren in Rente zu gehen, wenn zwei weitere Bedingungen erfüllt sind: Vier oder fünf Quartale vor einem bestimmten Alter (16., 18., 20. oder 21. Lebensjahr) gearbeitet zu haben und das erforderliche Frühverrentungsalter erreicht zu haben (58, 60, 62 und 63 Jahre, je nach Alter zu Beginn der Laufbahn).