Wie in Frankreich auch anonymisierte Zeugenaussagen an Beweiskraft gewinnen
Durch ein Urteil vom 19. April 2023 hat der Kassationshof erstmals über die Zulässigkeit anonymisierter Zeugenaussagen entschieden und deren Beweiskraft anerkannt, sofern andere Elemente die Glaubwürdigkeit und Relevanz dieser Aussagen unterstützen.
Im Arbeitsrecht ist der Beweis frei. Er muss jedoch rechtmäßig sein, und der betroffene Arbeitnehmer muss in der Lage sein, effektiv seine Verteidigung vorzubringen.
In der Entscheidung vom 19. April 2023 forderte ein Arbeitnehmer die Aufhebung einer gegen ihn verhängten disziplinarischen Sanktion mit der Begründung, der Arbeitgeber liefere keinen Beweis für das begangene Fehlverhalten. Der Arbeitgeber stützte sich auf eine anonymisierte Zeugenaussage und ein Gesprächsprotokoll mit der Personalleitung.
Die Vorinstanz stellte fest, dass sich der Arbeitnehmer aufgrund der anonymisierten Aussage nicht verteidigen konnte, und lehnte den Beweis des Arbeitgebers ab. Die disziplinarische Sanktion wurde daher aufgehoben.
Der Kassationshof folgt dieser Argumentation nicht und ist der Ansicht, dass ein Richter anonymisierte Zeugenaussagen berücksichtigen kann, also Aussagen, die nachträglich anonymisiert wurden, um ihre Autoren zu schützen, wenn diese durch andere Elemente bestätigt werden, die deren Glaubwürdigkeit und Relevanz hervorheben.
Praxistipps
- Diese Entscheidung eröffnet neue Möglichkeiten im Rahmen eines Disziplinarverfahrens oder einer internen Ermittlung wegen Mobbingverdachts. Mitarbeiter, die sich bisher kaum oder gar nicht trauten, auszusagen, könnten mit dem Vorschlag, dass ihre Aussage zum Schutz vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen anonymisiert wird, ermutigt werden.
- Es muss jedoch begründet werden können, weshalb die Anonymisierung der Zeugenaussage vorgenommen worden ist.
- Zudem muss der Arbeitnehmer, gegen den sich das Verfahren richtet, einigermaßen detailliert den Inhalt der gesammelten Aussagen erfahren, damit er sich verteidigen kann.
- Anonymisierte Zeugenaussagen allein reichen nicht aus, um ein Fehlverhalten nachzuweisen. Es ist daher unbedingt notwendig, über zusätzliche Beweise (wie nicht-anonymisierte Zeugenaussagen, Emailaustausche, weitere schriftliche Beweise usw.) zu verfügen.
16.11.2023