Frankreich: Deckelung von Schadensersatz weiterhin unsicher
Wenn in Frankreich ein Mitarbeiter ohne ausreichende Begründung entlassen wird und klagt, erhält er bis auf wenige Ausnahmen Schadensersatz. Wiedereinstellungen sind im Nachbarland selten.
Die Höhe des Schadensersatzes wurde lange nach freiem Ermessen der Richter festgesetzt.
Seit 2017 gibt es jedoch eine verbindliche Tabelle (den sogenannten Barème Macron), die eine nach Betriebszugehörigkeit gestaffelte Deckelung der Entschädigung vorsieht.
Allerdings herrscht in Frankreich weitgehende Uneinigkeit darüber, ob eine solche Deckelung mit den Bestimmungen der Internationalen Organisation für Arbeit (OIT) und der europäischen Sozialcharta vereinbar ist, welche das Recht auf eine „angemessene“ Entschädigung vorsehen. Viele französische Arbeitsgerichte haben die Vereinbarkeit der Tabelle mit internationalem Recht verneint und ihre Anwendung in erster Instanz abgelehnt.
In einer höchstrichterlichen Stellungnahme vom 17. Juli 2019 hatte daraufhin der Kassationsgerichtshof die Deckelung für mit internationalem Recht vereinbar und damit für zulässig erklärt. Da es sich bei dieser Entscheidung des Kassationsgerichtshofs jedoch lediglich um eine Stellungnahme und nicht um eine bindende Gerichtsentscheidung handelt, sind die Gerichte nicht verpflichtet, der Ansicht des Kassationsgerichtshofs zu folgen.
Wer dennoch gehofft hat, dass diese Stellungnahme zu einem Umdenken auf erstinstanzlicher Ebene und damit zu mehr Rechtssicherheit führen würde, wurde jäh enttäuscht: Bereits wenige Tage nach der Stellungnahme entschieden die Arbeitsgerichte von Grenoble und Troyes entgegen der Entscheidung des Kassationsgerichtshofs und sprachen den betroffenen Arbeitnehmern Entschädigungen zu, die wesentlich höher ausfielen als vom Barème Macron vorgesehen.
Nun wurde die Anwendung des Barème Macron in einem anderen Fall auch in zweiter Instanz abgelehnt: In einem Urteil vom 16. März 2021 sprach sich das Berufungsgericht Paris unter Verweis auf die Bestimmungen der Internationalen Organisation für Arbeit (OIT) gegen die Anwendung der Deckelung aus. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die vom Barème Macron vorgesehene Entschädigung im vorliegenden Einzelfall unangemessen niedrig sei, da diese lediglich die Hälfte des vom Arbeitnehmer erlittenen Schadens abdecke.
Es ist eine Entscheidung mit Ankündigung: In einem Fall aus 2019 hatte dasselbe Gericht der Deckelung der Entschädigung stattgegeben, sich jedoch ausdrücklich vorbehalten, im Einzelfall davon abzuweichen, sofern die daraus resultierende Entschädigung unangemessen sei. Für eine ähnliche Vorgehensweise hatte sich 2019 ebenfalls das Berufungsgericht Reims ausgesprochen und entschieden, dass das Gericht auf Antrag des Arbeitnehmers prüfen kann, ob die Entschädigungshöhe im jeweiligen Einzelfall angemessen ist.
Fazit:
Bedauerlicherweise trägt das jüngste Urteil des Berufungsgerichts Paris weiter zu der in erster und zweiter Instanz bestehenden Unsicherheit zum Thema Schadensersatz bei, auch wenn der Kassationsgerichtshof – sollten die Verfahren bis zu dieser Instanz kommen – wohl seiner vorherigen Stellungnahme entsprechend urteilen dürfte.
Die Anwendung der Deckelung vom jeweiligen Einzelfall abhängig zu machen, dürfte indes nicht im Sinne des Erfinders sein. Denn tatsächlich würde dies die Bemühungen des französischen Gesetzgebers, der mit der Einführung verbindlicher Entschädigungstabellen für mehr Rechtssicherheit und eine Entlastung der Arbeitsgerichte sorgen wollte, ad absurdum führen.
15.04.2021