Insolvenzverfahren mit Auslandsbezug: Insolvenzgeld in Frankreich
Mit dem Ziel einer ausgewogenen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung im europäischen Binnenmarkt hat die EU bereits 1980 begonnen, die Rechtssicherheit für Arbeitnehmer von zahlungsunfähigen Unternehmen, die in mehreren Mitgliedstaaten tätig sind, zu harmonisieren und ihre Rechte zu stärken.
Diese Richtlinie 2008/94/EG[1] legt die wesentlichen Grundsätze fest:
- Zuständig für die Auszahlung der nicht gezahlten Forderungen der Arbeitnehmer ist die Garantieeinrichtung des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit ausübt oder ausgeübt hat[2].
- Der Umfang der Arbeitnehmerrechte auf Zahlung ihrer Lohnforderungen im Rahmen eines Insolvenzverfahren wird durch das für die zuständige Garantieeinrichtung geltende Recht geregelt[3].
1. Die Vereinigung zur Verwaltung des Garantiesystems für Arbeitnehmerforderungen (AGS) in Frankreich
In Frankreich garantiert die Association pour la gestion du régime d’assurance des créances des salariés (AGS) im Rahmen eines rein nationalen Insolvenzverfahrens die Zahlung von Löhnen, Abfindungen und Ausgleichszahlungen für nicht genommenen Urlaub im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ähnlich dem Insolvenzgeld der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland. Diese Garantie beruht auf dem Prinzip einer rückzahlungspflichtigen Vorfinanzierung: Soweit die AGS die Lohnforderungen bei den Arbeitnehmern vorfinanziert hat, wird sie zu einem "superprivilegierten" Gläubiger des Schuldners im Insolvenzverfahren und darf bei verfügbaren Mitteln vorrangig eine Befriedigung verlangen.
2. Höhe des von der AGS gezahlten Insolvenzgelds in Frankreich
Die AGS sichert die Zahlung der Löhne und Gehälter für einen Zeitraum von 60 Arbeitstagen vor der Eröffnung des Verfahrens, sowie der Forderungen, die sich aus der Beendigung von Arbeitsverhältnissen innerhalb der so genannten Beobachtungsphase („période d’observation“) ergeben, die in mancher Hinsicht einem Insolvenzeröffnungsverfahren ähnelt. Abhängig von der Dauer des Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind Höchstbeträge pro Fall für alle Beträge und Forderungen vorgesehen, welche Sozialversicherungsbeiträge, Sozialabgaben, Lohnsteuer abdecken:
Für Arbeitsverhältnisse, die weniger als 6 Monate vor dem Eröffnungsbeschluss bestanden, ist die Garantie (Stand 2023) einkommensunabhängig auf einen Gesamtbetrag von maximal 58.656 € pro Fall begrenzt, für Arbeitsverhältnisse, die zwischen 6 Monaten und 2 Jahren bestanden, auf 73.320 €. Für Arbeitsverträge, die mehr als 2 Jahre vor dem Eröffnungsbeschluss abgeschlossen wurden, gilt eine Obergrenze von 87.984 €.
3. Inanspruchnahme der AGS durch ausländischen Insolvenzverwalter
Gemäß Artikel L.3253-18-1 des frz. Arbeitsgesetzbuchs, welcher die Richtlinie 2008/94/EG umgesetzt hat, garantiert die AGS auch im Rahmen eines Insolvenzverfahrens einer ausländischen Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder des Europäischen Wirtschaftsraums für Arbeitnehmer, die gewöhnlich in Frankreich tätig sind oder waren, die Zahlung der Lohn- und Gehaltsforderungen.
Hat also eine deutsche Insolvenzschuldnerin Arbeitnehmer in Frankreich beschäftigt, ohne dass in Frankreich ein eigenes (Sekundär-) Insolvenzverfahren läuft, muss der deutsche Insolvenzverwalter sich an die französische AGS wenden.
Gemäß Artikel L.3253-18-4 des Arbeitsgesetzbuchs muss, der im Rahmen des ausländischen Insolvenzverfahrens bestellte Insolvenzverwalter der AGS eine Forderungsaufstellung (auf Französisch: „état des créances“) vorlegen, in der die offenen Forderungen der Arbeitnehmer, die als Passiva in das Insolvenzverfahren aufgenommen wurden, im Einzelnen aufgeführt sind.
Die Forderungsaufstellung unterliegt keinen besonderen formalen Anforderungen seitens der AGS. Allerdings muss für jede Forderung der Bruttobetrag sowie die Höhe der Sozialangaben angegeben werden (L.3253-19 frz. Arbeitsgesetzbuch).
Zudem muss der Insolvenzverwalter in grenzüberschreitenden Sachverhalten für jeden AGS-Antrag Beweise dafür vorlegen, dass die Insolvenzmasse es nicht erlaubt, die dem Arbeitnehmer zustehenden Lohnforderungen zu begleichen.
Denn die Leistung der AGS ist subsidiär und greift nur ein, wenn die Forderungen nicht ganz oder teilweise aus den verfügbaren Mitteln beglichen werden können (Artikel L.3253-18-4 des frz. Arbeitsgesetzbuches). Im Falle der Eröffnung eines frz. Schutzschirmverfahrens (sauvegarde), das grds. nur vor Zahlungsunfähigkeit des Schuldnerunternehmens beantragt werden kann, muss der Insolvenzverwalter deshalb bei seinem Antrag gegenüber der AGS nachweisen, dass die dem Unternehmen zur Verfügung stehenden Mittel tatsächlich nicht ausreichen, um die Löhne zu zahlen (Cass. com., 7 juill. 2023, n° 22-17.902). Entsprechendes gilt für deutsche Insolvenzverfahren.
[1] Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers.
[2] Artikel 9.1 der Richtlinie 2008/94/EG.
[3] Artikel 9.2 Richtlinie 2008/94/EG.
11.12.2023