Vereinfachtes Disziplinarverfahren für Anwälte in Frankreich
Die Unabhängigkeit des Anwaltsberufs bildet das Fundament eines funktionierenden Rechtssystems und wird durch die Selbstregulierung der Branche gestützt. Schon lange wurde in Frankreich die Einführung eines vereinfachten Disziplinarverfahrens gefordert, das eine schnelle und unbürokratische Reaktion auf kleinere standesrechtliche Verstöße ermöglicht.
Mit dem Dekret Nr. 2025-77 vom 29. Januar 2025 wird diese Forderung nun umgesetzt. Das neue vereinfachte Disziplinarverfahren stärkt die Selbstregulierung und sorgt für eine flexiblere und zügigere Handhabung kleinerer, nicht schwerwiegender berufsrechtlicher Verstöße französischer Anwälte.
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Das neue, vereinfachte Disziplinarverfahren
Das Dekret Nr. 2025-77 vom 29. Januar 2025 setzt die Vorschläge des Conseil National des Barreaux (CNB), der die Interessen aller in einer französischen Anwaltskammer eingetragenen Rechtsanwälte vertritt, um und führt so das oben bereits genannte vereinfachte Disziplinarverfahren ein.
Bislang gab es für französische Anwälte nur ein Disziplinarverfahren, das in den Artikeln 188 bis 199 des Dekrets von 1991 festgelegt war. Dieses Verfahren war jedoch komplex und langwierig, was eine angemessene Reaktion auf geringfügige Verstöße erschwerte. Diese Bestimmungen bleiben gültig, wurden jedoch in einen neuen Kontext integriert. Sie sind nun unter dem Titel „Ordentliches Disziplinarverfahren“ im zweiten Abschnitt des Dekrets zusammengefasst. Der erste Abschnitt behandelt das neue „vereinfachte Disziplinarverfahren“ und umfasst die Artikel 187-2 bis 187-6. Es soll schneller und flexibler angewendet werden können, ohne dass ein vollständiges Disziplinarverfahren eingeleitet werden muss.
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Die Grenzen des vereinfachten Verfahrens
Das vereinfachte Verfahren ist nur unter bestimmten Bedingungen anwendbar, beispielsweise wenn die Verfolgung nicht auf einer von einem Dritten eingereichten Beschwerde beruht. Ein Anwalt, der selbst eine Beschwerde gegen einen Kollegen einreicht, wird dabei nicht als „Dritter“ betrachtet. Außerdem kann das vereinfachte Verfahren nicht angewendet werden, wenn gegen den betroffenen Anwalt in den letzten fünf Jahren eine zeitlich begrenzte Berufsausübungssperre verhängt wurde. Diese Einschränkungen sollen gewährleisten, dass das vereinfachte Verfahren nicht bei schwerwiegenden Verstößen zur Anwendung kommt.
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Die Rolle des Präsidenten der Anwaltskammer im vereinfachten Verfahren
Das vereinfachte Disziplinarverfahren stärkt nicht nur die Selbstregulierung des Anwaltsberufs, sondern verleiht auch dem Präsidenten der Anwaltskammer (Bâtonnier) mehr Befugnisse, um direkt gegen kleinere Verstöße vorzugehen.
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Die Sanktionen des vereinfachten Verfahrens
Im Rahmen des vereinfachten Disziplinarverfahrens hat der Präsident der Anwaltskammer die Möglichkeit, in den Fällen, die er für geeignet hält, eine Sanktion zu verhängen.
Die Hauptsanktion, die in solchen Fällen verhängt werden kann, ist eine Verwarnung oder ein Verweis. Zusätzlich kann der Präsidenten der Anwaltskammer auch ergänzende Sanktionen vorschlagen, wie etwa die Veröffentlichung des Urteils sowie die teilweise oder vollständige Bekanntgabe der Entscheidungsgründe, wobei die Anonymität Dritter gewahrt bleibt. Darüber hinaus kann ein vorübergehendes Verbot verhängt werden, das es dem Anwalt untersagt, ein neues Praktikantenverhältnis mit einem Rechtsreferendar abzuschließen oder neue Mitarbeiter beziehungsweise Rechtsreferendare zu betreuen. Dieses Verbot kann für maximal drei Jahre ausgesprochen werden, im Falle eines wiederholten Verstoßes kann es bis zu fünf Jahre andauern. Zudem kann der Präsident der Anwaltskammer den Anwalt verpflichten, an einer weiterführenden Fortbildung im französischen Standesrecht teilzunehmen, die maximal zwanzig Stunden innerhalb von zwei Jahren umfassen darf.
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Ablauf des vereinfachten Disziplinarverfahrens
Bevor der Präsident der Anwaltskammer eine Sanktion vorschlägt, wird der betroffene Anwalt in Frankreich im Rahmen des vereinfachten Disziplinarverfahrens zur Anhörung geladen. Dabei hat der Anwalt die Möglichkeit, sich gegebenenfalls von einem Verteidiger unterstützen zu lassen. Nach der Anhörung unterbreitet der Präsident dem Anwalt einen Vorschlag für eine der zuvor genannten Sanktionen.
Der Sanktionsvorschlag muss eine präzise Darstellung der vorgeworfenen Taten enthalten, ergänzt durch alle relevanten Unterlagen und eine fundierte Begründung, die im Falle einer Annahme durch den französischen Anwalt durch ein Gericht genehmigt werden kann. Nach Erhalt des Vorschlags hat der Anwalt 15 Tage Zeit, um entweder die vorgeworfenen Tatsachen anzuerkennen und die Sanktion zu akzeptieren, den Vorschlag vollständig abzulehnen oder sich nicht zu äußern – was als Ablehnung gilt.
Je nachdem, wie der Anwalt reagiert, wird das Verfahren entweder fortgesetzt oder beendet. Lehnt der Anwalt den Vorschlag ab oder äußert sich nicht, wird das vereinfachte Verfahren eingestellt und ein ordentliches Disziplinarverfahren eingeleitet.
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Entscheidung des Disziplinargerichts nach der Annahme des Sanktionsvorschlags durch den Anwalt
Akzeptiert der betroffene Anwalt den Sanktionsvorschlag des Präsidenten der Anwaltskammer (Art. 187-4, Dekret Nr. 91-1197 vom 27. November 1991), entscheidet das Disziplinargericht innerhalb von 15 Tagen auf Grundlage der Akten über die Genehmigung der Sanktion – ohne mündliche Anhörung. Die Sanktion wird genehmigt, wenn das Gericht bestätigt, dass der Anwalt die vorgeworfenen Taten anerkennt und die Sanktion angemessen ist. Andernfalls kann das Gericht die Genehmigung verweigern und ein ordentliches Verfahren einleiten.
Die Entscheidung wird dem Anwalt sowie allen beteiligten Parteien mitgeteilt. Innerhalb von 15 Tagen besteht die Möglichkeit, Einspruch einzulegen, auch durch den Generalstaatsanwalt. Erfolgt innerhalb dieser Frist kein Einspruch, wird die Entscheidung endgültig und in die Personalakte des Anwalts aufgenommen.
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Fortsetzung des vereinfachten Verfahrens nach Ablehnung des Sanktionsvorschlags
Wenn der Anwalt den Sanktionsvorschlag ablehnt, kann der Präsident der Anwaltskammer das vereinfachte Verfahren fortsetzen. Er ist nicht an Fristen gebunden, muss den Anwalt jedoch erneut vorladen, ihm die Disziplinarakte übermitteln und ihn anhören. Strebt er weiterhin eine Verfolgung an, übermittelt er die Akte und das Protokoll der Anhörung an den Vorsitzenden des Disziplinargerichts und, sofern es um einen in Paris zugelassenen Anwalt handelt, an den Dekan des Anwaltsrates.
Im weiteren Verlauf des Verfahrens werden weder der Sanktionsvorschlag noch die Anmerkungen des Anwalts berücksichtigt. Das Disziplinargericht fällt eine Entscheidung, die entweder eine Verurteilung, einen Freispruch oder die Feststellung umfasst, dass das vereinfachte Verfahren unzulässig ist. Gegen eine Verurteilung oder einen Freispruch kann Berufung eingelegt werden, jedoch nicht gegen die Entscheidung, dass das vereinfachte Verfahren nicht angewendet wird.
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Folgen des Scheiterns des vereinfachten Verfahrens
Scheitert das vereinfachte Disziplinarverfahren endgültig, können der Präsident der Anwaltskammer, der Generalstaatsanwalt oder gegebenenfalls der beschwerdeführende Anwalt das ordentliche Disziplinarverfahren gemäß den Artikeln 188 ff. einleiten. In diesem Fall werden weder der Sanktionsvorschlag noch die Anmerkungen des betroffenen Anwalts, seine Aussagen oder die Unterlagen aus der Anhörung im vereinfachten Verfahren im ordentlichen Verfahren berücksichtigt.
Weiterführende Informationen zu Anwälten in Frankreich
Dieser Artikel wurde von Dr. Christophe Kühl in Zusammenarbeit mit unserer Stagiaire Daniela Schwegler und unserer Schülerpraktikantin Lison Broz verfasst.
21.02.2025