Haftung französischer Anwälte bei Bug im elektronischen Anwaltspostfach
Das höchste Zivilgericht Frankreichs, die Cour de cassation, musste über die Frage entscheiden, ob Parteien für das Verschwinden elektronisch übermittelter Nachrichten aus dem französischen elektronischen Anwaltspostfach (RPVA – Réseau Privé Virtuel des Avocats – vergleichbar dem beA) verantwortlich gemacht werden können. Anlass war ein Streit vor der Cour d’appel, bei dem Nachrichten im System verschwunden waren. Trotz Vorlage von Kopien der gesendeten Nachrichten und eines Empfangsbestätigungsvermerks ("accusé de réception"), wurde der Antrag der Partei von der Berufungsinstanz abgelehnt. Das führte zu einer Klärung der Verantwortlichkeiten im digitalen Zivilprozess.
1. Hintergrund des Falles
Beteiligt waren auf Klägerseite eine Partei und deren Anwältin, auf der Gegenseite das erkennende Gericht. Die Klägerin hatte einen Antrag auf Überprüfung einer Verfahrensentscheidung ("déféré") gestellt, wie es im französischen Zivilprozess für bestimmte Verfahrenssituationen vorgesehen ist. Die Einreichung erfolgte fristgerecht über das elektronische Anwaltssystem RPVA. Nach Versand erhielt die Anwältin eine automatische Empfangsbestätigung vom Gericht. Einige Tage später wurde zusätzlich eine Papierversion des Antrags eingereicht, die aus formellen Gründen jedoch nicht berücksichtigt wurde, da grundsätzlich die elektronische Übermittlung vorgeschrieben ist.
Das zentrale Problem: Im offiziellen System erschienen die Nachrichten und das Empfangsprotokoll nicht. Die Berufungsinstanz war daher der Ansicht, es lägen nicht die erforderlichen elektronischen Dokumente vor, und wies das Rechtsmittel zurück.
2. Rechtliche Überlegungen
Im Fokus stand die Frage der Beweislast bei technischen Fehlern ("charge de la preuve en cas de dysfonctionnement technique"). Seit Jahren ist die elektronische Kommunikation im Zivilprozess in Frankreich verbindlich vorgeschrieben (Artikel 930-1 Code de procédure civile). Auch regelt das Recht technische Mindestanforderungen und die Verpflichtung zur Sicherstellung und Speicherung ("conservation") aller ausgetauschten Nachrichten durch die Justiz-IT (Artikel 748-6 Code de procédure civile, Arrêté vom 20. Mai 2020). Dennoch entstehen im digitalen Alltag immer wieder Sendefehler oder Systemfehler.
Die Vorinstanz hatte den Standpunkt vertreten, dass die Partei erklären müsse, warum ihre übermittelten Nachrichten nicht im System vorhanden sind. Sie begründete das mit einer gewissen Skepsis gegenüber privat vorgelegten Schreiben ohne Systemauthentifizierung (frz. suspicion à l'égard de documents produits sans authentification du système): Hätte der Anwalt die Daten frei erzeugt oder manipuliert?
Dem hielt die Cour de cassation entgegen, dass das Verfahren und die Beweissicherung so organisiert sind, dass die Verantwortung, Nachrichten gesichert zu speichern und auftretende Fehler zu vermeiden, ausschließlich bei der Justiz und nicht bei den Anwälten oder Parteien liegt. Den Parteien, die weder Zugriff auf noch Einfluss auf die technischen Systeme haben, kann nicht zugemutet werden, Systemfehler aufzuklären.
3. Entscheidung und Begründung
Die Cour de cassation hob die vorinstanzliche Entscheidung auf. Das Gericht begründete dies damit, dass die Verantwortung für die Speicherung und Verfügbarkeit elektronischer Kommunikation ausschließlich bei den Gerichten liegt und nicht auf die Parteien abgewälzt werden darf. Die Vorlage der Kopie des übermittelten Antrags sowie des Empfangsvermerks reicht aus, um die fristgerechte Einreichung zu beweisen.
Das Risiko technischer Schwierigkeiten und potenzieller Datenverluste im System müsse von der Justiz und nicht von den Parteien getragen werden. Die anderslautende Entscheidung der Vorinstanz stelle eine unzumutbare Belastung der Rechtssuchenden und deren Vertreter dar.
4. Näheres zur Entscheidung
Mit der Entscheidung hat die Cour de cassation klargestellt, dass im Fall von technischen Fehlern im elektronischen Übermittlungssystem die Partei entlastet wird, sofern sie anderweitig (z. B. durch Kopien und Empfangsbestätigungen) die Übermittlung nachweisen kann. Diese Grundsatzentscheidung schafft Rechtssicherheit im digitalen französischen Zivilprozess und schützt insbesondere die Interessen der Parteien vor Nachteilen durch Systemausfälle.
Cour de cassation, 2e chambre civile, 18. September 2025, n° 23-10.454
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